Die Kapelle im Nirgendwo

»Zwei Gefahren, eine wahrhaftig böse, eine missverstanden.«

– Elinor Zaker von der Herodorischen Kommandantur

 

Es war eine Kapelle, alt und heruntergekommen und im grünen Dämmerlicht des Waldes vergraben. Efeu und Ranken bedeckten ihre Mauern. Hellgrüne Flechten nagten am Mauerwerk. Verwirrt und ein wenig ängstlich folgten Mkoll und Beltayn der teilweise eingestürzten Mauer durch das alte Tor und den Pfad zur Tür entlang. Der Duft war wieder da, der Blumenduft. Er war so stark, dass Gaunt einen Niesreiz davon bekam. Es war der Duft nach Islumbinen.

Gaunt öffnete die Tür und trat ins kalte Dunkel der Kapelle. Drinnen war alles sehr schlicht, aber in gutem Zustand. Am Ende der hölzernen Bankreihen brannte eine Kerze auf dem imperialen Altar. Gaunt ging durch den Mittelgang zum Bildnis des Imperators. Im Buntglas der Spitzbogenfenster sah er das Bildnis der Heiligen Sabbat zwischen all den Würdenträgern. Mkoll und Beltayn blieben zurück.

»Wie kann das hier sein?«, fragte Mkoll.

Beltayn antwortete nicht. Er wusste, wo er war, und die Vorstellung erfüllte ihn mit solcher Furcht, dass er kein Wort herausbekam.

»Na«, murmelte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Da sind Sie ja endlich.«

 

Sie war so wie beim letzten Mal: sehr alt und blind. Ein Tuch aus schwarzer Seide war in Augenhöhe um ihren Kopf gewickelt. Ihr silbernes Haar lag eng am Kopf an. Das Alter hatte sie gebeugt, aber in aufrechter Haltung wäre sie größer als Gaunt gewesen.

Ihre rot-schwarzen Gewänder waren unverkennbar.

»Schwester Elinor«, sagte Gaunt. »Wir sehen uns also wieder.«

»Das tun wir, Ibram.«

»Das hier sieht aus wie die Kapelle des Heiligen Lichts im Überfluss von Veniq«, sagte er.

»Sie ist es.«

»Ich dachte, die wäre auf Aexe Cardinal, also ziemlich weit weg von hier.«

»Früher war sie das auch«, sagte Elinor Zaker. »Aber jetzt schon lange nicht mehr, nicht einmal bei Ihrem letzten Besuch dort. Sie existiert jetzt nur noch als eine Erinnerung, eine Erinnerung, in der ich wohnen kann.«

Beltayn ächzte leise. Mkoll blinzelte ein paarmal.

»Jemand hört das nicht gern«, sagte sie, während sie den Kopf neigte. »Sie sind nicht allein?«

»Diesmal sind wir zu dritt. Ich, Beltayn und der Anführer meiner Späher.«

Sie setzte sich auf eine der Bänke, indem sie mit einer Hand den Weg ertastete und sich mit der anderen auf ihren Stock stützte. »Also … sind wir schon auf Herodor?«, sagte sie. »Ist es schon so spät geworden?«

»Ja«, sagte Gaunt. »Und die Gefahr ist groß. Können Sie uns leiten?«

Sie ließ sich gegen die steife Banklehne sinken. »Die göttlichen Mächte gestatten mir nur Ratschläge. Aber die Situation hat sich seit unserem letzten Gespräch zugespitzt. Kräfte und Elemente, die das Tarot nicht vorhergesehen hat, sind ins Spiel gebracht worden. Um das auszugleichen, wurde mir gestattet, noch einmal mit Ihnen zu reden.«

»Sie haben schon zuvor versucht, Kontakt aufzunehmen. Ich entschuldige mich dafür, die Zeichen übersehen zu haben. Ich war beschäftigt.« Er hielt kurz inne. »Von wem gestattet?«

Sie wandte den Kopf in seine Richtung. Es war die flüssige Bewegung eines Menschen, der das Tragen eines Helms mit Zielsensoren gewöhnt war. Wie bei ihrer ersten Begegnung hatte Gaunt das Gefühl, als ziele sie auf ihn.

»Den göttlichen Mächten. Ihr Name kann nicht ausgesprochen werden, denn er strahlt zu hell.«

»Dann sprechen Sie, Schwester«, sagte Gaunt. »Die Zeit drängt. Die Beati ist bei mir, aber sie könnte durch die Hand des Erzfeindes den Tod finden. Keine Rätsel mehr.«

Elinor Zaker fuhr zusammen. »Sie ist bei Ihnen?«

»Ja«, sagte Gaunt.

Sie lächelte dünn. »Ach, mein Gott-Imperator, endlich …«

»Es bleibt so wenig Zeit …«, drängte Gaunt.

»Der Mechanismus ist heikel …«

»Seien Sie still!«, fauchte Gaunt. Die Kraft seiner Stimme ließ Beltayn zusammenfahren. Mkoll betrachtete die Szene fasziniert mit zusammengekniffenen Augen. Er hatte schon zuvor Visionen gehabt – und noch wichtiger, akzeptiert.

»Ich habe jetzt genug von diesem vagen Gerede und diesem rätselhaften Unsinn!«, schnauzte Gaunt. »Sagen Sie es mir! Sagen Sie es mir einfach! Wenn Sie mir helfen können zu gewinnen, helfen Sie mir! Wenn nicht, warum haben Sie mich dann überhaupt in diesen Unfug hineingezogen?«

Sie antwortete nicht.

»Schwester?«

Sie verschränkte die Hände im Schoß. »Sie haben sich selbst hineingezogen, als Sie der Beati auf Hagia gedient haben. Sie haben sich selbst hineingezogen, als Sie Brin Milo vor den Feuern Taniths bewahrt haben. Sie haben sich selbst hineingezogen, als Sie Kriegsmeister Slaydo dabei zugehört haben, wie er über die Schlachten aus dem Zeitalter Sabbats erzählte, und dann Ihren Bluteid schworen, sein Werk zu vollenden. Sie haben sich schon lange vor Ihrer Geburt selbst hineingezogen, vor der Geburt Ihrer Vorfahren, denn Sie und Ihre Geister sind ein kleiner Teil einer manifesten Bestimmung, deren Dimension so gewaltig ist, dass von hier aus, nicht einmal auf diesem Höhepunkt, weder der Anfang noch das Ende zu sehen ist.«

Gaunt schluckte. »Ich verstehe«, stammelte er.

Sie nickte ihm zu. »Ich weiß, Sie tun es nicht. Mehr als das Folgende brauchen Sie auch nicht zu verstehen, um Ihren Teil beizutragen. Zuerst Milo. Er ist entscheidend. Entscheidend für das, was danach kommt. Aber Ihnen muss klar sein, dass es kein Danach geben wird, wenn Sie hier scheitern.«

»Hier? Auf Herodor?«

»Auf Herodor«, wiederholte sie. »Überall lauert Gefahr, mehr als ursprünglich vorausgesehen. Aber die größte Gefahr lauert trotzdem innen. In Ihrem Körper.«

»Sie benutzen das Wort im DeMarchesischen Sinn. Mit Körper meinen Sie eine Armee. Meine Geister?«

»In der Tat. Sie haben seit unserer letzten Begegnung gelesen?«

»Ja, Schwester«, sagte Gaunt.

»Nun denn. Zum letzten Mal. Die Gefahr ist zweigeteilt. Zwei Gefahren: eine wahrhaftig böse, eine missverstanden. Die Letzte hat den Schlüssel. Es ist wichtig, dass Sie das nicht vergessen, weil Ihr Kommissare furchtbar schnell den Finger am Abzug habt. Der Schlüssel ist jetzt für Sie wichtiger denn je. Und schließlich, lassen Sie sich von Ihrem schärfsten Auge die Wahrheit zeigen. Das ist alles. Es werden neun sein.«

»Was haben Sie gesagt …?«, begann Gaunt.

Die Wirklichkeit platzte wie eine Seifenblase.

Gaunt stand neben Mkoll und Beltayn in einem sehr leeren, sehr ramponierten Hab-Modul.

»Was in Feths Namen ist gerade passiert?«, fragte Mkoll.

Beltayn zitterte vor Furcht und Verwirrung.

»Neun …«, murmelte Gaunt. »Bel. Klemmen Sie sich ans Kom. Finden Sie heraus, wo Soric ist.«

In der Dunkelheit war die Ausdehnung des Gemetzels in der Civitas sichtbarer. Ganze Abschnitte der Außenbezirke und Hänge standen in Flammen, und Feuer ballten sich auch rings um die Nordwände der Makropoltürme eins und zwei. Gaunt wusste nicht, wann der Schild zusammengebrochen war, aber mittlerweile war er lange ausgefallen, und aus dem Norden wehte der Wind durch das Becken der Civitas und fachte die Flammen zusätzlich an.

Die Imperiumstruppen und Unterstützungsmannschaften flohen nach Süden die Straßen zum höher gelegenen Teil Gildenhangs empor, manche zu Fuß, andere in dröhnenden Transportern und Lastern. Die zweite Verteidigungslinie war vollständig zusammengebrochen.

Gaunt trieb seine aus drei Trupps bestehende Streitmacht im Laufschritt voran und kam mit ihr bis zum Atmosphärenerzeuger auf dem Fenzyplatz, wo sie auf eine Kolonne von vier Truppentransportern der PS aufsprangen, die sie das letzte Drittel Gildenhangs zum Burgfried der Oberstadt emporfuhren, der dem Regiment Civitas als Hauptkaserne diente.

Der Burgfried war größtenteils intakt. Er war von ein paar Langstreckengranaten getroffen worden, aber das Hauptgebäude mit Blick auf Prinzipal I hatte überlebt. Im Appellhof sammelten sich Hunderte herodorischer Soldaten und beluden wartende Transporter mit überzähligen Geschützen.

Gaunt sprang von seinem Transporter und sah sich um, während Mkoll und Ewler eine Zählung vornahmen. Es roch nach Abgasen, und überall wurden Befehle gebrüllt. Gaunt sah auf. Die Oberstadt befand sich an der Basis der Makropoltürme, deren riesige Silhouetten sich schwindelerregend hoch und wohltuend massiv vor ihm erhoben. Eigentlich waren es keine Türme, sondern vertikale Städte von zyklopischer Konstruktion. Gaunt holte tief Luft. Er hatte vergessen, wie massiv sie waren. Vielleicht hielten sie stand, wenigstens für eine Weile.

»Gaunt!« Beim Klang seines Namens drehte er sich um und sah Biagi durch die Menge zu ihm kommen. Der Marschall hatte offenbar selbst Feindberührung gehabt. Eine Wunde an der Hüfte war notdürftig mit einem Feldverband versorgt worden.

Gaunt salutierte. »Wir konzentrieren uns jetzt auf die Türme, nehme ich an?«, sagte er.

»Auf die Altmakropole«, sagte Biagi. »Der Marschall und die Offiziare der Civitas haben sich dorthin zurückgezogen. Wir werden unsere Verteidigung um sie aufbauen.«

»Ist die Altmakropole nicht die verwundbarste?«, fragte Gaunt. »Sie ist uralt und weit weniger robust als die anderen Türme.«

»Die Altmakropole ist der Sitz der herodorischen Kultur«, sagte Biagi. »Sie ist unser Herz. Das Heilige Balnearium ist dort ebenso wie die ältesten Schreine. Wenn wir uns irgendwo konzentrieren, muss es dort sein.«

Die Implikationen waren grimmig. Die anderen Türme würden schutzlos bleiben. Ihre Bewohner würden sterben. Es musste eine schwere Entscheidung für Biagi gewesen sein.

Gaunt fing sich. Nein, die Entscheidung war leicht. Es war genau dieselbe, die er beim Untergang Taniths getroffen hatte. Alles konnte nicht gerettet werden, und jeder Versuch, es dennoch zu tun, war zum Scheitern verurteilt. Die einzige Möglichkeit bestand darin, alle Anstrengungen zu konzentrieren, um wenigstens einen Teil zu retten.

Biagi starrte auf den Feuerschein, der den Nordhorizont erhellte.

»Wenn ich mir vorstelle, dass ich Ihnen die Benutzung von Flammenwerfern verboten habe, Gaunt. Sehen Sie nur, wie meine Stadt brennt.«

»Seien Sie dankbar, Herr Marschall, dass ich Ihre diesbezüglichen Befehle missachtet habe. Ohne meine Flammer hätte sie sehr viel früher sehr viel heftiger gebrannt.«

Gaunt sah Biagi an. »Ich habe eine Kom-Nachricht auf meinem Weg hierher geschickt. Sie betraf einen meiner Soldaten. Sergeant Soric?«

»In der Tat. Ich habe ihn wie gewünscht aus dem Turm hierher bringen lassen. Was ist so wichtig an ihm?«

»Begleiten Sie mich, dann finden wir es vielleicht heraus.«

 

Von Beltayn und Biagis eigenem Kom-Offizier, Sires, begleitet, betraten Gaunt und der Marschall den Burgfried des Regiments Civitas. Die Notbeleuchtung war eingeschaltet, und die Flure waren in einen matten grünen Schein getaucht. Mannschaften eilten mit Nachschubkisten an ihnen vorbei oder schoben Munitionskarren vor sich her. Sie holten alles aus der alten Festung heraus, was sich als nützlich erweisen mochte.

»Irgendwas von Kaldenbach?«, fragte Gaunt.

»Eine kurze Nachricht. Er sitzt in einem Kessel im Westen fest, aber er hat noch ein paar Panzer, die er einsetzen kann.«

»Und die Beati?«

»Wir haben im Moment Schwierigkeiten, ihren Standort auszumachen. Ich habe sie beschworen, den Rückzug anzutreten.«

»Ich auch. Es ist zwingend notwendig. Ihnen ist auch klar, dass dieser Krieg rein symbolisch ist?«

»Der Gedanke ist mir durch den Kopf gegangen«, sagte Biagi.

»Lassen Sie ihn nicht gehen. Behalten Sie ihn fest im Blick. Es geht nur um sie. Herodor hat keine strategische Bedeutung. Durch ihr Herkommen hat sie diese Welt zu einer Zielscheibe gemacht. Diese Invasion hat nur einen Zweck. Sie zu finden und zu töten. Sie ist der Köder. Wenn wir das erkennen und ausnutzen, ist vielleicht noch nicht alles verloren.«

»Ist ihr das auch klar?«, sagte Biagi.

Gaunt warf ihm einen Blick zu. »Ich fürchte sehr, dass sie überhaupt nur deswegen hier ist, Marschall.«

»Ich verstehe«, sagte Biagi.

Sie blieben vor einer dreifach versiegelten Sicherheitsschleuse stehen. Zwei PS-Posten traten für sie beiseite und verzogen sich rasch, als Biagi ihnen befahl wegzutreten. Der Marschall schob seinen Berechtigungsschlüssel in die entsprechende Buchse, und die Schleuse öffnete sich mit leisem Surren. Die Kammer dahinter war grell von weißen Phosphalampen erleuchtet. Sie war das Militärgefängnis des Burgfrieds.

Drinnen erwartete sie eine Gruppe bewaffneter Geister. Meryn und seine Einheit, die als Wachabteilung diente.

»Herr Kommissar!«, sagte Meryn schneidig.

»Wir kommen zurecht, Sergeant. Begeben Sie sich zu den Evakuierungstransportern. Wir sehen uns in der Altmakropole.«

Meryn nickte. Er sah wütend aus. »Sie hätten ihn erschießen sollen, Herr Kommissar«, sagte er.

»Ich bitte um Verzeihung, Meryn?«

»Er ist Abschaum. Dreck. Ich wusste es. Ich habe es Kommissar Hark erzählt. Das Schwein hätte schon längst hingerichtet werden müssen.«

»Das ist Ihre Ansicht, Meryn, nicht wahr?«

»Herr Kommissar, in jedem Augenblick, den er am Leben ist, bringt er Schande über unser Regiment! Ich weiß nicht, warum Sie Ihre Aufgabe als Kommissar nicht erfüllt und diesem Dreckschwein eine Kugel in den Kopf …«

Gaunts Hieb traf Meryn unvorbereitet und überraschte alle Anwesenden. Meryn fiel auf den Rücken und hielt sich den blutenden Mund.

»Agun Soric hat den Geistern ausgezeichnet gedient, Meryn. Er hat sich freiwillig zur Inhaftierung gemeldet und könnte sich als etwas ganz anderes erweisen als der Teufel, den Sie an die Wand malen. Und was die Schande betrifft, dafür sorgen Sie ganz allein recht gut.«

Gaunt wandte sich an die Männer aus Meryns Trupp. »Ich bin Kommissar. Es ist meine Aufgabe, Urteile zu fällen. Aber anders als die Keetles dieses blutigen Universums fälle ich meine Urteile nicht übereilt. Soric lebt oder stirbt allein auf meinen Befehl. Verstanden?«

Nervöses Stimmengeknurre antwortete. Gaunt wandte sich wieder an Meryn. »Gehen Sie mir aus den Augen, und beten Sie, dass ich Ihre Unverschämtheit bei unserer nächsten Begegnung vergessen habe.«

Fargher und Guheen zogen ihren Sergeant auf die Beine, und der vierzehnte Trupp verließ die Kammer.

»Ich dachte, Meryn wäre einer Ihrer Besten?«, sagte Biagi.

»Das ist er auch, auf eine solide, phantasielose Art.«

»Was hat er denn gemeint? Wegen diesem Soric?«

»Sie müssen ein wenig Geduld haben, Herr Marschall. Soric ist vor ein paar Stunden zu mir gekommen und hat gestanden, ein Psioniker zu sein.«

 

»Er ist hier drinnen«, sagte Dorden, der die vier Soldaten bis zur Tür von Zelle fünf führte. Der tanithische Arzt hatte es sich nicht nehmen lassen, Soric persönlich zu begleiten. Ein berobter Astropath und zwei bullige Männer in langen grauen Ledermänteln standen neben der Zellentür. Die grauen Männer, die Schockstäbe in den Händen hielten, waren Mitglieder des psionischen Kaders der Lebenskompanie. Augmetische Dämpfer-Einheiten mit Drahtgittern waren in ihre Ohren und Augenhöhlen eingepasst.

»Ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Gerade, zu Meryn«, sagte Dorden.

»Haben Sie? Ich nehme an, ich fange langsam an, Ihren hohen Maßstäben zu entsprechen, Doktor?«

Dorden lächelte sarkastisch. »Eins verstehe ich nicht«, sagte er. »Vor kurzem haben Sie noch gesagt, Sie glaubten, der Warp würde der Menschheit niemals die Wahrheit zeigen, vor allem nicht dem Ungeübten und dem Ungeduldeten.«

»Ich habe meine Meinung geändert«, sagte Gaunt. »Ich bin weder geübt noch geduldet, aber wie Zweil festgestellt hat, haben Mächte, göttliche oder andere, sich entschieden, zu mir zu sprechen. Heute Nachmittag, in einer kleinen Kapelle …«

»Was?«

»Schon gut. Sind wir da?«

Dorden öffnete die Zellentür.

Soric lag im grellen Licht der Phosphalampen an der Decke auf der Pritsche aus perforiertem Metall. Er war übel zusammengeschlagen worden. Dorden hatte sich alle Mühe gegeben, ihn wieder zusammenzuflicken.

»Feth! Was ist passiert?«

»Meryns Trupp ist passiert. Auf dem Weg hierher haben sie ihm einen Vorgeschmack auf die Hölle gegeben.«

»Dreckskerle, ignorante Dreckskerle …«

»Was ist das denn?«, murmelte Biagi und bückte sich, um einige der vielen hundert zerknitterten blauen Papierfetzen aufzuheben, die auf dem Zellenboden lagen. Gaunt sah ihm über die Schulter. Die Zettel in den Händen des Marschalls waren mit einer hastigen, kaum leserlichen Schrift voll gekritzelt.

»Ich würde sagen, die sind von einem ganz normalen Meldezettelblock der Garde abgerissen worden«, sagte Beltayn.

»Haben Sie ihm Papier gegeben? Schreibzeug?«, fragte Biagi die Wärter.

»Nein, Herr Marschall«, grunzte einer von ihnen mit monotoner Stimme, die aus einem künstlichen Kehlkopf kam. »Wir haben dem Gefangenen alle persönlichen Habseligkeiten abgenommen. Aber sie kehren immer wieder zu ihm zurück.«

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Biagi.

Der Wärter ging zu Soric und durchsuchte ihn. Soric ächzte bei seiner Berührung. Der Wärter holte einen Messingzylinder aus Sorics Oberschenkeltasche.

»Ich weiß nicht mehr, wie oft wir ihm den schon abgenommen haben. Alle paar Sekunden verschwindet er aus unserem Beutel mit den Beweismitteln und taucht in seiner Tasche wieder auf.« Der Wärter öffnete den Nachrichtenzylinder und schüttelte den nächsten blauen Zettel heraus. »Und jedes Mal ist eine neue Nachricht darin.«

»Haben Sie so etwas schon mal erlebt?«, fragte Gaunt.

»Nein, Herr Kommissar«, antwortete der Wärter.

Gaunt kniete sich neben Soric. »Agun? Chef? Können Sie mich hören?«

Sorics Auge öffnete sich zu einem schmalen Schlitz in seinem zugeschwollenen Gesicht. Das Auge war blutunterlaufen.

»Herr Kommissar-Oberst«, seufzte er.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit, Chef. Erzählen Sie mir von den neun.«

»Bin so müde … solche Schmerzen …«

»Chef! Vorhin wollten Sie es mir unbedingt erzählen! Also erzählen Sie es mir jetzt!«

Soric nickte langsam und richtete sich mit Dordens Hilfe zu einer halb sitzenden Position auf.

»Neun sind unterwegs«, sagte er.

»Neun?«

»Neun«, wiederholte er unter Schmerzen. »Es tut mir so Leid, Herr Kommissar. Es war nie meine Absicht …«

»Heben Sie sich das für später auf, Agun. Erzählen Sie mir von den neun.«

»Neun. Der Zylinder hat mir gesagt, es würden neun sein. Weil neun die heilige Zahl der Beati ist …«

»Die neun heiligen Wunden«, sagte Biagi feierlich.

»Die neun heiligen Wunden«, nickte Soric. »Ich habe sie gesehen. Sie hat mich angeschaut. Direkt angeschaut. Sie wusste es …«

»Chef! Chef! Kommen Sie, bleiben Sie bei uns!«

Soric war immer leiser geworden und zusammengesackt. Gaunt sah Dorden an. »Können Sie nichts tun?«

»Was uns hilft? Natürlich. Was ihm hilft? Nein. Außerdem, wenn er ist, was Sie befürchten, ist ein Aufputschmittel vielleicht keine so gute Idee.«

»Ich glaube, das müssen wir riskieren«, sagte Gaunt. »Einverstanden? «

Biagi nickte. Die Wärter schalteten ihre Schockstäbe ein. Plötzlich stank es in der kleinen Zelle durchdringend nach Ozon.

Dorden spritzte Soric etwas in den Arm und desinfizierte die Einstichstelle. Soric zitterte, schauderte und krampfte sich zusammen.

Dann schlug er das eine Auge auf und starrte Gaunt an.

»Herr Kommissar?«

»Erzählen Sie mir von den neun, Chef.«

»Neun. Das hat er gesagt. Er wollte einfach nicht davon aufhören.« Soric hob die Hand, und Gaunt sah, dass sie den Messingzylinder hielt. Wie bei Feth war er wieder in seine Hand gelangt?

»Seit Phantine, seit meiner Verwundung auf Phantine, begleitet mich dieses Ding jetzt. Es redet nicht mit mir, verstehen Sie? Es schreibt mir. Alles sehr zivilisiert. Ich öffne den Zylinder, und siehe da! Wieder eine Botschaft. Geht nach links, geht nach rechts, folgt der Mauer … so etwas. Gefechtskram. Nur ein Rat. Ich habe mir nie Sorgen deswegen gemacht. Gott-Imperator, ich weiß, ich hätte es tun sollen! Ich hätte Ihnen schon längst davon erzählen müssen!«

»Warum haben Sie sich nie Sorgen deswegen gemacht?«, fragte Gaunt.

»Weil es meine Handschrift war. Ich trinke ganz gerne mal einen, das wissen Sie, Herr Kommissar. Ich habe mich gefragt … habe ich das geschrieben und wieder vergessen …?«

»All diese Botschaften?«

»Nein. Nein! Aber am Anfang schon. Und dann, als mir klar wurde, dass mehr dahintersteckt, hatte ich zu viel Angst.«

»Wovor?«

»Vor Männern wie Ihnen«, sagte Soric und zeigte dabei auf Gaunt. »Vor Männern wie denen«, fügte er verdrossen hinzu und zeigte auf die Wärter.

»Milo hat mir gesagt, was ich tun soll«, sagte Soric. Gaunt sah Beltayn an. »Er hat mir gesagt, dass ich ein Mann sein und gestehen soll.«

»Was … was sagt der Zylinder Ihnen jetzt, Chef?«

»Der Zylinder weiß immer alles. Er wusste das mit Herodor schon lange, bevor wir die Nachricht bekamen. Er wusste es. Er weiß einfach Bescheid. Neun. Neun sind unterwegs.«

»Neun was?«

»Neun Attentäter.«

»Die kommen, um die Beati zu töten?«

Soric nickte.

»Auf Herodor gibt es eine riesige Armee, die versucht, die Beati zu töten«, sagte Biagi.

»Aber die neun sind etwas Besonderes. Sie haben den besonderen Auftrag vom Magister erhalten. Sie sind längst zu uns vorgedrungen. Viel weiter vorgedrungen, als wir wahrhaben möchten.«

»Was sind das für Attentäter?«, fragte Gaunt.

»Warten Sie«, sagte Soric. Er schob den Nachrichtenzylinder in seine Oberschenkeltasche und zog ihn dann wieder heraus. Als er ihn öffnete, befand sich ein zusammengefalteter Zettel aus dünnem blauen Papier darin.

Er glättete das Blatt, um es zu lesen, und hielt es dabei dicht vor sein zugeschwollenes Auge.

»Neun. Ein Scharfschütze. Drei Psioniker. Drei Reptilien. Ein Phantom. Eine Todesmaschine.«

 

Draußen vor der einfachen Zelle lehnte Gaunt sich an die Wand und wischte sich kalten Schweiß von der Stirn. »Haben Sie das da drinnen gespürt?«

Biagi nickte.

»Plötzlich war es wie in einem Sumpf, so heiß und feucht …«

»Er ist ein Psioniker. Er müsste verbrannt werden.«

»Nicht, solange er nützlich ist. Vergessen Sie die Invasionstruppen, der Feind hat Spezialisten in die Stadt geschleust. Wir müssen sie schnellstmöglich finden.«

»Aber …«

»Denken Sie nach, Biagi! Ich sagte Ihnen schon, dass dieser Krieg ein symbolischer ist! Alles, was zählt, was Ihre Welt wert ist, ist das Leben der Beati. Wir müssen diese Attentäter finden und töten, bevor sie den Krieg direkt gewinnen.«

Biagi zuckte die Achseln. »Was wissen wir denn? Er hat uns so wenig verraten. Ein Scharfschütze …?«

»Der ist bereits tot, glaube ich«, sagte Gaunt. »Einer weniger. Die Reptilien …«

»Wir wissen, dass Loxatl aktiv sind«, sagte Dorden.

Gaunt nickte.

»Er hat ein Phantom erwähnt«, sagte Biagi. »Vor einer halben Stunde habe ich mich mit einem Soldaten der Leibkompanie namens Boles unterhalten. Er hat mir erzählt, Landfreed und eine komplette Geschützmannschaft wären von einem Geist getötet worden, der aus dem Nichts aufgetaucht wäre.«

»Von einem Geist?«, fragte Dorden nach.

Biagi lächelte. »Verzeihung. Von einem Gespenst. Boles ist ein erfahrener Veteran. Er war sicher, dass es einer aus dieser Teufelsbrut von Piraten war.«

Gaunt schauderte. Nur in seiner Zeit als Kadett, viele Jahre vor Balhaut, hatte er es einmal mit diesen bösartigen Mördern, den so genannten Dunkeleldar, zu tun bekommen.

»Was ist mit diesen drei Psionikern? Und dieser … was hat er noch gleich gesagt? Mit dieser Todesmaschine?«

»Wir werden sie finden«, sagte Gaunt.

»Wie?« Biagi lachte.

»Wir finden die Beati. All diese Attentäter sind auf der Suche nach ihr.«

 

»Was hatte die Prophezeiung zu bedeuten, Herr Kommissar?«, fragte Beltayn, als er mit Gaunt durch die Schleuse des Burgfrieds nach draußen ging.

»Schwester Elinor hat gesagt, dass es zwei Gefahren gibt, eine wahrhaftig böse, die andere missverstanden. Ich glaube, die missverstandene ist Soric. Wissen Sie noch, sie sagte, ich sollte aufpassen, weil Kommissare immer so schnell den Finger am Abzug haben? Das scheint zu passen. Er ist der Schlüssel, und ich hätte ihn hinrichten lassen können, bevor mir das klar geworden ist.«

»Was ist mit der anderen Gefahr?«

»Tja, nach der suchen wir.«

»Und was hat sie am Ende gesagt … ›Lassen Sie sich von Ihrem schärfsten Auge die Wahrheit zeigen‹?«

Gaunt nickte. »Verständigen Sie alle Abteilungen, die noch im Feld sind. Sagen Sie ihnen, die Beati ist in Gefahr, und sie sollen sie ausfindig machen und beschützen. Und stellen Sie eine Verbindung zu Mkoll her. Er ist mein schärfstes Auge.«

Gaunt stutzte. »Und zu Larkin auch.«

»Heiligkeit! Eure Heiligkeit!« Domor rannte über den Hof zur Beati. Milo war bei ihr. Sie schien den Himmel anzustarren. Domor musste schreien, um sich über den Lärm des Bombardements hinweg verständlich zu machen, das auf die Straßen in der Nähe niederging.

»Noch ein Ruf über Kom! Diesmal von Marschall Biagi. Er wiederholt Kommissar-Oberst Gaunts Anweisungen. Wir müssen zur Altmakropole. Das ist unabdingbar! Heiligkeit?«

»Ich glaube, sie hat es verstanden«, sagte Milo. Der Boden erzitterte, als eine Panzergranate keine siebzig Meter entfernt ein Geschäft demolierte. »Wir können ohnehin nicht mehr viel länger hier bleiben.«

Sabbat schauderte, als sei die Nachtluft zu kalt. In Wahrheit war sie infolge der überall tobenden Brände glühend heiß.

»Was ist denn?«, fragte Milo.

»Er kommt. Das Endspiel hat begonnen.«

»Wen meint sie?«, fragte Domor Milo.

Milo schüttelte den Kopf. »Wir müssen jetzt in die Altmakropole, Sabbat«, sagte Milo. »Sie warten auf uns. Sie brauchen uns.«

Die Beati drehte sich um und betrachtete ihn halb lächelnd. Manchmal, wie jetzt, wenn die Flammen ihre Züge von der Seite anleuchteten, hatte sie etwas Schreckliches, Beängstigendes an sich.

»Bald«, versicherte sie ihm. »Noch ein letztes Wagnis. Wir müssen zu den Agroponischen Kuppeln.«

 

Draußen in den kahlen Wüsten der Großen West-Obsidae war die Nacht eine harte, trockene, eisige Angelegenheit, durch die gnadenlose Winde aus den äußeren Zonen peitschten. Phosphalampen schienen und schwangen im Wind umher, während sie unzählige Reihen feindlicher Landungsboote und Transportschiffe beleuchteten, deren Schleusen geöffnet waren und nach Süden wiesen.

Dort lag die Civitas in der Ferne, in Düsternis und das Aufblitzen des Krieges gehüllt. Der orange Schein der brennenden Feuer erleuchtete den Himmel.

Mit heulenden Schubdüsen kam ein einzelnes, massiver als die anderen gepanzertes Landungsboot tief herein und wirbelte noch heftigere Staubwolken auf als die Wüstenwinde. Sein Heuschrecken-Begleitschutz legte sich in eine scharfe Kurve und zog davon. Düsen flammten bläulich. Hydraulische Landestützen fuhren aus, und der Gefechtstransporter setzte auf wie ein riesiger Moskito.

Die Schleusen öffneten sich. Licht fiel nach draußen. Sklaventrupps ergossen sich aus den Luken, denen eine im Stechschritt marschierende Kolonne des Gefolges in voller Schlachtrüstung folgte. Das Gefolge, fünfhundert Mann stark, teilte sich mit Exerzierplatz-Präzision, präsentierte in einer perfekt synchronisierten Bewegung das Gewehr und bildete ein zweireihiges Ehrenspalier.

Etrodai, die Knochenklinge nackt und hungrig, schritt die Rampe hinunter, und Er folgte.

Er trug eine glänzend schwarze Schlachtrüstung. Das Gesicht war unter Seinem gehörnten Helm verborgen. Das Gefolge murmelte den Sermon des Respekts.

Enok Innokenti, Magister, Kriegsführer, erwählter Schüler des Archon, setzte Seinen Fuß auf den staubigen Boden Herodors. Er hob die Arme zum Gruß.

Das Gefolge brüllte Seinen Namen.


ZWÖLF

In Sabbats Namen

»Wie der Imperator beschützt, so müssen es auch wir.«

– Ibram Gaunt

 

Einige der Männer in Corbecs Trupp machten ihrem Unmut Luft, und Corbec konnte verstehen, warum.

»Wann lassen wir uns denn nun endlich zurückfallen?«, sagte Bewl.

»Um Feths willen, warum sind wir immer noch hier draußen?«, sagte Cown.

»Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, Jungens«, versicherte Corbec ihnen. Die Anweisungen waren simpel gewesen. Findet die Beati und bringt sie in die Altmakropole. Und passt ganz besonders auf die richtig schlimmen Sachen auf. Von denen es anscheinend neun gab.

Sie kämpften nicht mehr. Sie schlichen. Verhüllt, verstohlen, unter Einsatz all ihrer tanithischen Schleichfähigkeiten, tasteten sie sich durch die Trümmerwüste Gildenhangs. Sie wichen vorrückenden Blutpakt-Einheiten aus und versteckten sich, wenn rote Panzer mit flammenden Lampen vorbeischepperten. Ab und zu kam es zu einem Feuergefecht, wenn die Umstände es verlangten, aber sonst spielten sie ausschließlich Verstecken.

Sie hielten sich im Schatten und blieben am Leben.

Corbec war froh, dass er Mkvenner wieder bei sich hatte. Er hatte längst aufgehört, die Blutpakt-Kehlen zu zählen, die Ven in dieser Nacht schon durchgeschnitten hatte, während er sie führte. Es gab kein Entrinnen vor der Erkenntnis, dass sie alle so oder so hier auf Herodor sterben würden. Das waren ihre Aussichten, und nicht einmal Varl oder Feygor hätten ihnen bessere eingeräumt. Aber bei Feth, sie würden ihre Haut teuer verkaufen.

Den Tarnumhang wie eine Kapuze um sich gezogen, huschte Corbec auf ein Zeichen Vens vorwärts und passierte dabei die in Deckung liegenden Orrin, Cown, Cole und Irvinn. Er erreichte die Straßenbiegung und nutzte den von einer brennenden Festhalle geworfenen Schatten aus, um sich weiter vorzutasten. Er hob eine Hand und gab seinerseits ein Zeichen. Veddekin, Ponore, Sillo, Androby und Brown folgten ihm mit kurzem Spurt und verschwanden in einem zusammengeschossenen Druckerladen zu seiner Linken. Dann folgten Surch und Loell mit dem Kaliber-50 und den Munitionsgurten.

Corbec huschte in die nächste Deckung. Für einen derart massigen Mann war er sehr leise. Rerval und Roskil gaben ihm Deckung und folgten ihm dann.

Die drei rannten in Einerreihe zum Ende des Häuserblocks. Ein Panzer oder etwas Ähnliches hatte das Haus dort platt gewalzt und nur noch zerklüftete Trümmer stehen lassen, aus denen die abgerissenen Metallverstrebungen ragten.

Mkvenner tauchte wieder auf und kam leichtfüßig zu ihnen gelaufen. »Irgendein überdachter Markt zur Linken. Die Straße rechts ist unpassierbar. Wir könnten weiter bergab, wenn wir der Seitenstraße da folgen.«

»Können wir auch durch den Markt?«, fragte Corbec.

»Den habe ich mir nicht angesehen.«

»Versuchen wir es.« Corbec erhob sich und signalisierte mit den Fingern etwas nach hinten. Dann liefen er und Ven mit Brown, Cole, Sillo und Roskil hinter sich weiter.

Der überdachte Markt hatte früher ein Glasdach gehabt, aber die Druckwellen der Bombardierung hatten es zerstört. Ein paar Holzschirme waren noch intakt. Die Geschäfte in dem Markt waren alle abgeschlossen und verrammelt.

»Sieht nicht sehr vielversprechend aus«, sagte Ven.

Corbec nickte und machte kehrt. Dann blieb er abrupt stehen. Er hatte etwas gerochen. Der Geruch war schwach, sehr schwach, und ging beinahe im Gestank des Rauchs und des verbrannten Öls unter.

Etwas wie Zimt. Er kannte diesen Geruch, ganz genau sogar. Diesen ganz besonderen Gestank. Aus Hagia, der Doktrinopolis … wie lange war das jetzt her? Vier Jahre?

Er würde ihn nie vergessen. Er war immer noch in seinen Albträumen. Ein Augenblick in seinem Leben, den auch noch so viel tiefer Schlaf nicht verblassen ließ. Er und der arme Junge Yael. Gefangene der Infardi. Und dieses Ding, dieses Ungeheuer in Menschengestalt. Das Yael abgeschlachtet hatte, nur um ihn schreien zu hören.

Es konnte nicht sein. Das Dreckschwein war schon lange tot …

Corbec holte noch einmal tief Luft: Zimt, Schweiß, Fäulnis. Schwach, aber wahrnehmbar.

»Geben Sie mir Deckung«, sagte er zu Ven, wobei er den fragenden Blick des Spähers einfach nicht beachtete.

Corbec drang mit dem Lasergewehr im Anschlag in den Markt ein. Jeder Schritt wurde mit äußerster Vorsicht gesetzt. Der Boden war mit den Glassplittern des geborstenen Dachs übersät. Die Nerven aufs Äußerste angespannt und so gewandt wie die besten tanithischen Späher, verursachte Corbec kein Geräusch.

Er schlich hinein und kontrollierte jede Ecke und jeden Winkel. Zweimal erschreckten ihn Schatten zu Tode, und er hätte fast geschossen. Der Geruch wurde stärker.

Corbec sah Bewegung. Tief unten, unter dem Stand eines fliegenden Händlers. Er schlich vorsichtig näher und hielt das Lasergewehr nur noch in einer Hand, während die andere seine Taschenlampe zückte. Er schlich um den Karren und sah, dass sich zwei Kinder hinter den Rädern versteckten. Kleine gebeugte Kinder. Eines wedelte mit einer Hand neben dem Kopf, als wolle es sich in der stickigen Luft Kühlung zufächeln. Corbec ging noch weiter herum und schaltete die Lampe ein. Er strahlte die Kinder mit dem grellen Licht an, und sie zuckten mit keiner Wimper. Er sah ihre Gesichter.

»Ach, Feth!«, knurrte er.

Etwas traf ihn von hinten, ein schwerer, starker Mann, der nach Schweiß und Zimt stank. Corbec stolperte vorwärts, prallte gegen den Karren und kippte ihn um.

Die Last lag auf ihm. Er verspürte einen stechenden Schmerz in der linken Schulter.

Corbec jaulte auf und rammte den Ellbogen nach hinten. Die Last wurde leichter, und er wälzte sich herum und tastete nach seinem Gewehr. Er stieß gegen die Kinder … obwohl er nach dem kurzen Blick auf sie wusste, dass sie keine Kinder waren … und spürte, wie sie nach ihm griffen.

»Herr Oberst? Oberst Corbec?«, hörte Corbec Ven rufen. Er hörte Männer über die Glassplitter laufen. Ein Lasergewehr schoss.

Mkvenner kam mit Brown und Cole neben sich angelaufen. Roskil und Sillo waren dicht hinter ihnen. Cole hatte bereits einen Schuss abgegeben und die Jalousie des Ladens hinter den Zwillingen damit durchbohrt. Die Zwillinge hielten einander fest und wandten ihre blinden Köpfe Cole zu. Die psionische Welle traf ihn und brach ihm jeden Knochen im Leib. Seine schlaffe Gestalt flog wie ein beschwerter Sack rückwärts in die Luft und durch das Marktdach und durchbrach dabei mit widerlichem Knirschen eine Stützstrebe.

Corbec sprang auf und fuhr herum. Er sah grüne Seide und das Funkeln entblößter Metallzähne.

»Sünde!«, schrie er und landete einen Fausthieb in Pater Sündes Gesicht. Der große Infardi wurde nach hinten geschleudert und stürzte über zwei weitere Karren. Eine Flut aus Knöpfen und Perlen ergoss sich über den Boden.

»Pater Sünde!«, brüllte Corbec noch einmal und hechtete dem sich abrollenden Infardi hinterher. Die Zwillinge hörten seinen Aufschrei und wandten den Kopf in seine Richtung. Der psionische Schock streifte ihn und schleuderte ihn Hals über Kopf in die Jalousie eines Ladens auf der anderen Seite des Gangs. Er zerbrach mehrere Stäbe und fiel zu Boden.

Mkvenner sprang Sünde an, als dieser aufstehen wollte. Sie rangen miteinander, und der Späher riss ihn wieder zu Boden. Sünde landete einen Hieb mit einem tätowierten Arm, der Mkvenner zur Seite schleuderte.

Die Zwillinge öffneten den Mund, und plötzlich war ein Summen zu vernehmen. Brown und Roskil blieben wie angewurzelt stehen und schwankten, während ihnen Blut aus Nase und Ohren lief. Roskil hob sein Lasergewehr und schoss Brown zwischen die Augen. Dann fuhr er schwankend herum und zielte auf Sillo, der voller Entsetzen zurückwich.

Das Zischen eines auf Dauerfeuer geschalteten Lasergewehrs ertönte. Mkvenner war auf einem Knie und schoss. Die Zwillinge wurden gemeinsam gegen die Wand hinter ihnen geschleudert und glitten daran herab, wobei sie einen klebrigen blutigen Streifen an der Wand zurückließen. Roskil brach hirntot zusammen, als sie starben.

Heulend warf Pater Sünde sich auf Corbec. Seine tödlichen Zahnimplantate knirschten und schnappten nach Corbecs Hals. Der Oberst wehrte Sünde mit dem linken Arm ab und tastete mit dem rechten nach etwas, das er gegen den Verrückten einsetzen konnte. Irgendwas. Egal was.

Seine Finger schlossen sich um einen harten, metallischen Gegenstand. Er hoffte bei Feth, dass es sein Kampfmesser war, zog den Gegenstand und stach damit seitlich nach Sündes Kopf. Es drang nicht ein, aber der Hieb ließ Sünde einen Moment zurückweichen.

Es war nicht Corbecs ehrliches Silber, ganz und gar nicht. Es war eine Stabgranate.

Corbec fluchte und zuckte zurück, als Sünde wieder auf ihn losging. Sein massiger Leib nagelte Corbec am Boden fest, und die Kiefer mit den künstlichen Zähnen öffneten sich, um seinem Feind die Kehle durchzubeißen.

Corbec rammte die Granate in das klaffende Maul, als Sünde zubeißen wollte. Die zugespitzten Zähne bohrten sich in das Metallgehäuse. Sünde versuchte sich zurückzuziehen. Corbec brachte die Beine unter Sündes Körper, trat zu und schleuderte den Ketzer rückwärts von sich.

Ein abgerissener Zündstreifen blieb zwischen Corbecs Fingern zurück.

»Das ist für Yael, du Fethgesicht!«, brüllte Corbec, während er sich flach auf den Boden warf.

Die zwischen Pater Sündes Zähnen verankerte Stabgranate explodierte.

Mit Sündes Überresten bespritzt, erhob sich Corbec. Er eilte zu Mkvenner, den die Druckwelle der Explosion zu Boden geschleudert hatte.

»Das Dreckschwein haben wir erwischt«, sagte Corbec.

 

Caffran ging plötzlich auf, was er betrachtete. Er war an der Spitze des Trupps in eine Seitenstraße geschlichen und kauerte nun in Deckung, während die anderen Geister hinter ihm nachrückten. Voraus war es dunkel und leer, und die Gegend lag im Schatten eines Aquädukts, das sich hoch über ihnen bergab zum tiefer gelegenen Teil der Stadt zog, wo das Feuer die Nacht orange erleuchtete.

Caffran hielt nach Bewegung auf Straßenhöhe Ausschau, aber er wurde durch eine Bewegung hoch oben im Schatten des Aquädukts abgelenkt. Nistende Vögel, dachte er, bis ihm einfiel, dass er noch keinen lebenden Vogel auf Herodor gesehen hatte.

Er starrte nach oben. Eine blasse Gestalt, so unstofflich wie Rauch, schien sich an der Außenseite des Aquädukts entlangzubewegen.

»In Bereitschaft halten«, sendete er über Kom. »Da ist etwas.«

Und er erkannte sie auch. Zwei Loxatl, schlank und geschmeidig wie Fische im Wasser, die direkt über ihnen das Mauerwerk entlanghuschten.

»Feinde! Auf elf Uhr!«, rief er und eröffnete das Feuer auf die Schatten im Bogen des Aquädukts. Sie hallten in der Enge und tauchten das Mauerwerk rings um die Kreaturen in gleißende Helligkeit. Ein Loxatl verschwand sofort oben auf dem Aquädukt, während der andere wie eine Schlange in einem irrsinnigen Tempo den Stützpfeiler hinunterglitt. Ungefähr drei Meter über der Straße sprang er auf die Fassade des Habs gegenüber, da seine Afterklauen ihm gestatteten, die vertikale Mauer emporzuklettern.

Caffran stürmte wild schießend vorwärts. Feygor, Leyr und Dunik waren neben ihm, hatten aber nicht gesehen, was er gesehen hatte.

»Caff?«

»Loxatl! Feth, da oben!«

Caffran schoss auf das Habitat, obwohl er das Vieh eigentlich gar nicht mehr sehen konnte. Dunik und Feygor folgten einfach blind seinem Beispiel und feuerten ebenfalls. Die Geister hatten eine ganz besondere Abneigung gegen Loxatl.

Das Ding tauchte wieder auf, tiefer als Caffran geschätzt hatte. Kleine augmetische Servoglieder in seinen Waffengeschirren schwenkten den Werfer herum und schossen.

Die ersten beiden Flechetteladungen trafen die Wand hinter Feygor und hinterließen tiefe Löcher, die mit einem Gürtel aus vielen hundert kleineren Einschlägen umgeben waren. Die dritte atomisierte Duniks Kopf und Schultern in einem blutigen Regen.

Caffran und Feygor warfen sich flach auf den Boden. Leyr, dem umherfliegende Splitter Schnittwunden an Hand und Arm zugefügt hatten, schrie auf und stolperte.

Sie zerrten ihn in Deckung. »Runter! Bleiben Sie ja unten!«, brüllte Caffran, als er Rawne und ein halbes Dutzend Geister die Straße entlanglaufen sah, um ihnen zu helfen. Der Werfer der Loxatl wiederholte sein charakteristisches klapperndes Husten und feuerte einen Splitterregen in Kopfhöhe die Begrenzungsmauer der Straße entlang. Jemand schrie.

Rawne kauerte auf Händen und Knien hinter einem verlassenen Wagen und starrte entsetzt auf die riesigen, gezackten Löcher, die die Waffe des Xenos über ihm in die Mauer bohrte. Tatsächlich war jedes Loch das Resultat von tausend gleichzeitig auftreffenden rasiermesserscharfen Splittern.

»Wo ist das Vieh?«, brüllte er.

Caffran konnte nichts sehen. »Ungefähr zwei Etagen höher an der Fassade des Hauses gegenüber«, sendete er über Kom. »Einer ist außerdem auf das Aquädukt geklettert. Jemand soll um Feths willen aufpassen, dass wir aus der Richtung keine Überraschung erleben!«

Fünfzig Meter weiter hinten hörten Kolea und Criid das Signal und sahen einander an. Das jaulende Husten der Loxatl-Waffen weckte bei ihnen beiden ganz besondere Erinnerungen. Ouranberg, Criid in Not. Kolea, der praktisch sein Leben geopfert hatte, um ihres zu retten.

Als lese er ihre Gedanken, sagte Kolea: »Diesmal nicht.«

Sie kehrten unter das Aquädukt zurück und machten sich auf die Suche nach der zweiten Kreatur. Auf der anderen Seite war die Sicht besser. Der bernsteinfarbene Schein der wütenden Feuersbrünste sorgte für gutes Licht. Das Gewehr im Anschlag und alle Sinne aufs Äußerste angespannt, schwärmten sie aus, immer bemüht, möglichst in Deckung zu bleiben. Criid und Kolea zuerst … Jajjo … Skeen, Pozetine … Kenfeld.

Jajjo sah die Reflexion von Feuerschein in nichtmenschlichen Augen, die halb unter schützenden Nickhäuten verborgen waren. Er hechtete zu Boden, während Flechettemunition das Gestein rings um ihn zerfetzte. Mehrere Stacheln schnitten ihm Waden und Schienbeine auf, aber es gelang ihm, sich bei der Landung abzurollen, und er kam schießend wieder hoch.

Jajjos Laserstrahlen klatschten gegen die Mauer, wo kurz zuvor noch der Loxatl gewesen war, aber scharfe Afterklauen und erschreckend flinke Reflexe hatten das Ding bereits zehn Meter die Fassade des Hauses empor in den Schutz des Schattens unter dem Dachüberhang befördert.

Criid sah es verschwinden und schoss darauf. Kenfeld fiel ein.

»Gak, das Biest ist so verdammt schnell!«, beklagte sie sich.

»Ich glaube …«, begann Kenfeld und war dann plötzlich nicht mehr neben ihr. Sie zuckte zusammen. Ihr Gesicht war klebrig und nass. Es war Kenfelds Blut. Sein zerfetzter Körper war fünf Meter weit nach hinten geschleudert worden, so hart und schnell, als sei er von einem dahinrasenden Laster erfasst worden.

Criid warf sich in Deckung und wechselte mit zitternden Händen das Magazin ihrer Waffe. Sie hörte Laserschüsse, das antwortende Husten des Werfers und dann schnelle Schritte. Gol Kolea warf sich neben sie.

»Wo ist das Biest?«, fragte sie.

»Oben und nach links, aber es ist ständig in Bewegung. Alles in Ordnung mit dir?«

Sie nickte. In ihrem Ohrhörer überschlugen sich die Alarmrufe und Meldungen der übrigen Truppmitglieder, die zu ihnen vorzudringen versuchten, aber von dem gnadenlosen Feuer des Werfers festgenagelt wurden.

Kolea machte Anstalten, sich wieder nach draußen zu stürzen, doch sie packte seinen Arm und zog ihn zurück.

»Keine Heldentaten mehr«, sagte sie. »Wir haben dich gerade erst wiederbekommen.«

»Ist das ein Befehl?«

»Ja, und …«

»Und was?«

»Ich will, dass du noch lebst, wenn wir hier fertig sind. Wir müssen uns unterhalten. Über … über deine Kinder.«

Er warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Meine Kinder sind im Makropolkrieg gestorben, Tona. Meine Frau auch. Die einzigen Kinder, um die wir uns dieser Tage Gedanken machen müssen, sind deine.«

»Aber …«

»Deine«, sagte er mit Nachdruck. »Der Imperator beschützt, und wenn er beschäftigt ist, vollbringt Tona Criid Wunder für ihn. Es reicht mir zu wissen, dass sie leben und geliebt werden. Mehr, als ich je hoffen konnte.«

Er umarmte sie und hielt sie einen Moment ganz fest. Dann nahm er seine Waffe und rannte los. Der Werfer hustete und jaulte.

 

Auf der anderen Seite des Aquädukts rannte Rawne ebenfalls. Drei weitere Mitglieder seines Trupps waren mittlerweile über das Gelände verteilt worden, aber der Loxatl hatte für den Augenblick zu schießen aufgehört. Er nahm an, dass er auf das Dach des Habs gestiegen war.

Er rannte über die Straße und erreichte die Vorderseite des Hauses. Mit dem Rücken dicht an der Hauswand tastete er sich vorsichtig weiter. Die Straße war ruhig. Dünne Rauchschwaden trieben langsam hindurch. Auf der anderen Seite sah er Geister im Schutz irgendwelcher Deckung vorkriechen.

Rawne stach plötzlich der Gestank nach saurer Milch in die Nase. Nach Milch und Minze.

Die Schultern an die Wand gepresst, legte er den Kopf in den Nacken und schaute nach oben. Der Loxatl starrte auf ihn herab. Er war direkt über ihm, ungefähr drei Meter höher an der Wand, den Kopf gesenkt, während er mit seiner mit Bartfäden versehenen Schnauze witterte. Der augmetische Harnisch klickte und richtete den Lauf des Werfers auf seine Augen.

»Schöne Scheiße«, sagte Rawne.

Von der anderen Straßenseite traf ihn Bandas Hochenergieschuss am Schwanzansatz und fegte den Loxatl von der Wand. Er prallte neben Rawne in einem Regen aus Ziegeln auf den Boden und wand seinen schlangengleichen Körper unter Schmerzen. Flüssigkeit lief aus dem lippenlosen Mund. Rawne drückte die Mündung seines Lasergewehrs in die exponierten Falten seiner Kehle und schoss.

»Saubere Arbeit als Köder, mein Schatz«, sagte Banda, die mit ihrem Präzisionsgewehr auf der Schulter aus ihrer Deckung geschlendert kam.

»Ha und noch mal ha«, sagte Rawne.

 

Chto-Brutführer war tot. Reghh hatte seine Schmerzensschreie im Ultraschallbereich gehört. Wut-Hunger überflutete seinen Verstand, und seine glänzende Haut fing an, in Trauercodes zu pulsieren. Schillernde Muster huschten über seinen Schlangenleib. Er huschte eine Mauer hinab, ein Stück Straße entlang und dann eine Seitenwand empor in die nächste Gasse. Diese Säuger waren nicht das Ziel. Sie hielten ihn auf und bewirkten, dass er Schüsse vergeudete.

Die Sinne der Loxatl waren stumpfe Werkzeuge. Außerhalb des Wassers waren Sehvermögen, Gehör und Geruch schlecht. Geschmack und Vibration waren die primären Sinne. Reghh konnte spüren, wie die Säuger-Soldaten auf der Suche nach ihm die Straße entlangliefen, die er gerade verlassen hatte. Er konnte ihre Schritte spüren, ihre Mundgeräusche, ihren Herzschlag und das Schnaufen ihrer Lunge. Er konnte ihren Angstschweiß und ihre Hautgerüche schmecken.

Er huschte die Mauer wieder herunter und wandte sich nach Süden, als plötzlich Schmerzen durch seinen Leib zuckten. Weißglühend-eiskalte, brutale Schmerzen. Er taumelte, und seine doppelten Lider blinzelten.

Der Säuger riss das Gewehr zurück und zog damit das lange, silberne Bajonett aus seinem Leib. Warum hatte Reghh ihn nicht geschmeckt oder gewusst, dass er da war?

Reghh wand sich herum. Der Boden war nass von seinem Blut, das ihn rasch verließ. Er konnte den Säuger vage erkennen.

Der Säuger hatte keinen Geschmack. Überhaupt keinen. Als sei er irgendwie neugeboren: rein und noch nicht von den Gerüchen geprägt, die sich im Laufe ihres Lebens in ihrer schmutzigen Haut sammelten.

Wie war das möglich? Der Säuger war vollkommen ausgewachsen.

Reghh versuchte sich weit genug zu drehen, um seine Harnischwaffen einsetzen zu können. Die Schmerzen in seinem Bauch waren zu groß. Der Säuger ohne Geschmack sprang wieder vor.

Gol Kolea rammte das Bajonett noch zweimal in den zuckenden Leib der Bestie, um ganz sicherzugehen, dass sie auch tot war. Loxatlblut tropfte von dem ehrlichen Silber, das unter den Lauf seines Bajonetts geklemmt war. Dunkle Farbspiralen huschten über die glänzende Haut des Loxatl, die Augenblicke später eine mattweiße Färbung annahm.

Schwer atmend schaltete Kolea sein Helmkom ein. »Sergeant?«, sagte er. »Ich habe ihn erwischt.«

 

Es war wirklich seltsam. In all den Jahren hatte er während der Jagd noch nie zuvor dieses Gefühl gehabt. Er wurde gejagt.

Skarwael bewegte sich lautlos und für alle unsichtbar durch die verlassenen Straßen Gildenhangs. Die Makropoltürme der imperialen Stadt erhoben sich vor ihm, aber in dieser Gegend war alles ruhig und tot. Die Menschen waren geflohen und hatten nur Ruinen zurückgelassen. Das wie eine finstere Drohung grollende Heer der Angreifer war zwanzig Minuten hinter ihm.

Skarwael hatte auf seinem Weg zu den Makropoltürmen ein paarmal gejagt, weil es ihn nach Schmerzen dürstete. Herodor war praktisch zerstört. In weniger als einem Tag würden die Makropoltürme brennen und der Magister seinen Sieg bekommen.

Die Aufgabe blieb. Sie war nicht leicht zu fassen, diese Märtyrerin. Das machte die Jagd umso interessanter.

Und dieses eigenartige Gefühl. Es machte dieses ganze Unternehmen lohnenswert. Skarwael hatte die Aufgabe auf der Grundlage der vom Magister angebotenen Belohnung akzeptiert – ein Vermögen an Territorium und Metallen und einen Duldungsvertrag zwischen seiner Kabale und dem Archon Gaur. Aber dieser Kitzel war schon Belohnung genug. Der Jäger wurde gejagt.

So hatte er sich seit den bitteren Jahren als Novize nicht mehr gefühlt, als Lord Kaah sie alle in den elenden Gewölben der Mordbahnen gejagt hatte, um ihre Fähigkeiten zu verbessern.

Was mochte es hier draußen sein? Gewiss kein Mensch. Kein Mensch konnte je hoffen, es in puncto Verstohlenheit und Arglist mit einem Mandrak aufnehmen zu können.

Skarwael verschmolz mit dem Schatten und kehrte um. Wie ein Phantom glitt er durch die Dunkelheit eines ausgebrannten Habs und wieder auf die Straße. Dunkelheit schwamm rings um ihn, dehnte seinen Hautmantel auf unnatürliche Weise aus und verband ihn mit der Nacht.

Wo bist du?, fragte er sich.

Die Straße war leer. Stellenweise brannten Feuer in einigen Häusern. Die steifen Leichen imperialer Soldaten zierten den Boden. Ein Verwundeter, ein PS-Soldat, lief an ihm vorbei, vollkommen verängstigt und in der Hoffnung, die Türme zu erreichen, bevor die Schleusen hermetisch versiegelt wurden. Der Mensch sah Skarwael nicht einmal, obwohl dieser mitten auf der Straße stand. Der nichts ahnende Mann lief so nah an Skarwael vorbei, dass dieser sein Boline hätte ausstrecken und ihm damit die Kehle hätte durchschneiden können.

Trotzdem dieses Gefühl.

Skarwael drehte sich um, wurde Ziegel, wurde Glas, wurde Gestein, passte seine sichtbare Gestalt dem Hintergrund an. Sein unsichtbarer Gegenspieler war ganz in der Nähe. Er konnte es spüren. Seine bleiche Haut kribbelte. Hinter ihm? Nein! Weiter links …

Er passierte Schatten und Feuerschein und beugte Licht und Geräusch rings um sich, während er sich bewegte. Seine Chamäleonkräfte ließen ihn mit Wänden und Hauseingängen verschmelzen, als sei er ein Gespenst aus dem Nachleben.

Da! Skarwael kehrte um und floss durch die Nacht zurück. Endlich hatten sich seine unübertroffenen Fähigkeiten als Schleicher ausgezahlt. Da war sein Gegenspieler, hinter ein Geländer gekauert in dem Versuch, sich zu verstecken.

Du warst gut, räumte Skarwael ein. Ein Vergnügen, dich zu jagen, ein Vergnügen, meine Kräfte mit deinen zu messen. Aber du bist einem Mandrak nicht gewachsen. Beweg dich nicht. Ich werde dir die Ehre eines langsamen, köstlichen Todes erweisen.

Skarwael sprang und stieß mit seinem heiligen Messer zu. Das Boline zuckte durch das Geländer und bohrte sich in leblosen Stoff.

Überrascht zerrte Skarwael den Stoff durch die Streben und roch daran. Ein Umhang, ein leerer Umhang aus irgendeinem Tarnmaterial. Er fuhr herum und starrte auf das auf ihn gerichtete Gewehr.

»Du bist gut«, sagte Mkoll widerwillig.

Der Laserstrahl traf den Mandrak zwischen die Augen.


DREIZEHN

Die letzten Stunden

»Neun ist immer noch eins.«

– Botschaft, in Sorics Handschrift verfasst

 

Die Schließung erforderte den genetischen Abdruck des ersten Offiziars. Leger war verängstigt, und Biagi musste ihm während der gesamten Prozedur gut zureden, doch der Marschall war geduldig.

»Sind alle drinnen? Sind sie’s?«, murmelte Leger.

Geschützmannschaften bewachten die Hänge des Makropoltors unter ihnen. Gaunt hatte Criids, Obels und Rawnes Trupp bereits in Empfang genommen. »Warten Sie noch«, sagte er.

Geschützfeuer traf die Ausläufer der untersten Ebene der Altmakropole. Wellen von Einheiten des Erzfeindes, die meisten von ihnen motorisiert, eilten den Türmen entgegen, und das Ausmaß der Luftangriffe hatte sich verdoppelt.

Es war kurz vor Morgengrauen.

Eine Kolonne ramponierter Transporter rollte durch das Tor und weiter die Straße entlang in die riesigen Empfangshallen der Altmakropole. Kaum hatten sie angehalten, als auch schon die Luken aufflogen. Domors Trupp stieg aus. Die Beati und Milo waren bei ihnen.

»Sabbat«, sagte Gaunt, während er sich verneigte. »Wir hatten um Ihr Leben gefürchtet.«

»Das tut mir Leid, Ibram. Aber jetzt bin ich hier. Ihre Geister haben mich beschützt.«

»Gaunt?«, rief Biagi vom Gehweg über ihnen. »Sind wir so weit?«

Gaunt warf einen Blick auf seine Datentafel. Jetzt waren alle in der Altmakropole, alle Überlebenden des Regiments Civitas, der PS und der Leibkompanie. Jedenfalls alle, mit denen sie noch rechnen konnten.

Auf seiner eigenen Liste, der Liste der tanithischen Einheiten, fehlte noch eine. Sergeant Skerrals Trupp, Neunzehn, der zuletzt in einem Feuergefecht mit den Todesbrigaden auf der Neshionstraße beobachtet worden war.

»Herr Kommissar?« Corbec wandte sich an Gaunt. »Ich glaube, wir müssen jetzt den Schlussstrich ziehen.«

Gaunt nickte.

»Tore versiegeln!«, rief Biagi.

Leger legte die Hand auf die Gen-Lesetafel und bezeugte seine Autorität. Die massiven Schutztore der Altmakropole schlossen sich mit dumpfem Krachen.

 

Trupp neunzehn war noch ungefähr fünfhundert Meter vom Nordeingang der Altmakropole entfernt, als sie sahen, wie sich die Tore schlossen.

Skerral blieb wie angewurzelt stehen und versammelte seine Männer um sich. Seine halbe Einheit war gefallen. Er wechselte das Magazin in seinem Gewehr gegen ein frisches aus.

»Kommt«, sagte er, während er sich zur Welle der Angreifer umdrehte, die durch Gildenhang brandete. »Mal sehen, wie viele wir erledigen können.«

Die Reste von Neunzehn hielten sich siebzehn Minuten vom Zeitpunkt des Schließens der Tore. Sie waren für hundertachtundneunzig gefallene Feinde verantwortlich. Niemand wurde Zeuge ihres Heldentums.

 

So massiv die Altmakropole auch war, sie erbebte unter den Angriffen, die gegen sie vorgetragen wurden. In vielen der oberen Ebenen brannte es. Die massierten Streitkräfte des Magisters warfen sich immer wieder gegen die Außenmauern.

Sie erhielten die Nachricht, Makropolturm zwei sei eingenommen worden. Innokenti sei persönlich dort und lasse sich zivile Opfer bringen.

Die Haupttore der Altmakropole fielen mitten am Vormittag. Die Todesbrigaden strömten hindurch und eroberten Straße um Straße und Abschnitt für Abschnitt.

Gaunt ging die Treppe zum Heiligen Balnearium in der untersten Ebene der Altmakropole herunter. Die vielen tausend Elektrokerzen flackerten und funkelten. Die meisten Honoratioren hatten sich bereits am Beckenrand versammelt. Lugo, Biagi, Leger, Kilosh und die Ayatanis, Kaldenbach, die führenden Astropathen und höchsten Ekklesiarchen.

Die Messe war eine Idee der Beati. Ein letzter Segen für ihre treuen Truppen, bevor das Ende kam.

Gaunt hatte sich in sein Schicksal ergeben. Sie waren jetzt nur noch wenige Stunden vom Tod entfernt. In den äußeren Ebenen des Makropolturms tobten grimmige Kämpfe. Teile der externen Außenanlagen stürzten unter der Einwirkung des Bombardements ein.

Trotzdem hatte er nur einem Minimum an Geistern die Teilnahme gestattet. Der Kampf gegen den Feind hatte Vorrang vor jedem heiligen Segen. Die einzigen Geister, denen er gestattet hatte, ihn zu begleiten, marschierten in einer Doppelreihe hinter ihm die Treppe hinunter. Die tanithischen Flammer. Sie trugen ihre Tanks und Schläuche mit Stolz. Biagi hatte persönlich um ihre Anwesenheit gebeten. Er wollte sie ehren und die wesentliche Rolle offiziell anerkennen, die sie trotz der uralten Gesetze der Civitas gespielt hatten.

Gaunt führte sie zum Beckenrand, wo sie ordentliche Reihen bildeten. Einige Honoratioren der Stadt und Offiziere der Leibkompanie betrachteten die verdreckten Flammer mit sichtlichem Widerwillen.

»Beachtet sie gar nicht«, sagte Gaunt.

Die Beati stand in ihrer goldenen Rüstung bis zu den Oberschenkeln im Wasser und sprach Kiodrus’ Gebet. Milo wartete in der Nähe mit den Tempeladepten auf der obersten Stufe der Treppe zum Wasser. Sabbats Stimme hallte durch die feuchtwarme Luft. Sie pries die Truppen, die sich hier auf Herodor um sie versammelt hatten, und erwähnte die Offiziere und Kommandeure der Einheiten namentlich. Siebzig Prozent der von ihr erwähnten Namen gehörten Toten.

Gaunt, der mit seinen Soldaten Haltung angenommen hatte, blendete ihre Worte langsam aus. Es war warm, und er war von einem Gefühl der Sterblichkeit erfüllt. Das waren alles nur schöne Worte. Oben in der Makropole erwartete sie die Schlacht, und es würde ihre letzte sein. Gaunt stellte fest, dass seine Aufmerksamkeit von einem Blasenstrom geweckt wurde, der das Wasser am anderen Ende des Beckens kräuselte. Irgendein Ablaufventil.

Mehr Blasen. Größer, heftiger. »Beati …«, begann Gaunt, während er einen Schritt aus der Reihe machte.

Karess brach aus dem Badebecken hervor.

Sein Rumpf stank und war verdreckt von seinem Marsch durch die Tiefen unter der Civitas. Seine Waffenarme kamen hoch und er schoss. Eine schwere Boltkanone und eine Plasmakanone.

Entsetzte Panik erfasste die Versammlung im Heiligen Balnearium. Priester und Soldaten sprengten auseinander, wobei manche auf den glitschigen Steinen ausrutschten. Niemand wollte wirklich glauben, dass so plötzlich und unerwartet ein Chaos-Cybot aus dem Boden hervorbrechen konnte.

Karess schritt mit feuernden Waffenarmen durch das wirbelnde Wasser des Beckens vorwärts und brüllte dabei Obszönitäten. Basaltsplitter wurden aus der Seite des Beckens gesprengt. Boltpatronen metzelten fünf Tempeladepten und drei Offiziere der Leibkompanie nieder. Kilosh wurde von einem Plasmastrahl eingeäschert. Kaldenbach sank zu Boden, während Blut aus einer Bauchwunde lief.

Karess rückte zur Treppe am Beckenrand vor und tauchte dabei fast völlig aus dem Wasser auf. Er drehte sich, um die linke Seite des Bads unter Beschuss zu nehmen. Die Boltkanone röhrte und dröhnte, und die Seitenwand wurde mit Blut und explodiertem Gewebe bespritzt. Der Erste Offiziar Leger und der oberste Astropath der Civitas ließen beide ihr Leben bei dieser Salve. Sabbat stolperte die Beckentreppe empor, und Milo zog sie in die Deckung einer der massiven Steinsäulen des Heiligen Balneariums.

Biagi eilte ihm zu Hilfe und schoss mit seiner Dienstpistole in das Becken. Eine Boltpatrone traf ihn in die Brust und schleuderte seinen halb explodierten Leichnam so durch die Halle, dass mehrere flüchtende Personen von ihm umgerissen wurden.

Eine dieser Personen war Marschall Lugo.

Schreiend löste sich Lugo von den Gestürzten und erhob sich. Die Todesmaschine hatte jetzt das Ende der Treppe erreicht und setzte den ersten massiven Klauenfuß auf den Beckenrand. Milo hatte die Beati mittlerweile hinter die Säule gezerrt, und auch praktisch alle anderen noch lebenden Personen waren in Deckung gegangen. Karess’ Sensoren klickten und surrten, als er seine gewaltige Leibesfülle drehte und nach Zielen suchte.

Nach dem Ziel.

Er sah Lugo, dessen Augen schreckgeweitet waren, während er rückwärts taumelte. Karess ließ einen weiteren Strom halb erstrickter Obszönitäten hören und zielte mit seiner Boltkanone auf ihn.

Doch er schoss nicht. Ein Schlag hatte ihn erschüttert. Unflat brüllend, schwang er den massiven eisernen Torso herum, um die Ursache ausfindig zu machen, und bekam noch einen Treffer in die Flanke.

Gaunt holte erneut mit der Energieklinge Heironymo Sondars aus und schlug wieder zu. Die Kriegsmaschine war monumental und extrem stark, aber sie war auch langsam und unbeholfen. Der Cybot schoss, doch Gaunt war hinter ihm im flachen Wasser an der Treppe. Er schlug noch einmal mit seinem Schwert zu und hinterließ einen tiefen Riss in Karess’ Heckpanzerung.

Karess stieß ein elektronisches Kreischen aus und schwenkte mit einem knirschenden Scheppern von Gestänge herum. Der Lauf der Plasmakanone traf Gaunt und schleuderte ihn ins Becken.

Blasphemien schreiend, drehte sich der Cybot wieder um und machte die Säule aus, hinter der die Beati Schutz gesucht hatte.

Kaldenbach hielt sich mit einer Hand die schreckliche Bauchwunde und half sich mit der anderen mühsam auf die Knie. Er war nur ein paar Meter von der Todesmaschine entfernt. Vor Schmerzen stöhnend, zog er eine Stabgranate aus dem Gürtel und rollte sie über die Fliesen. Sie blieb zwischen Karess’ massiven Klauenfüßen liegen.

Die Explosion sprengte den oberen Teil der Beckentreppe in Stücke. Karess beschädigte sie kaum, aber die Explosionswucht warf ihn rückwärts ins Becken und ließ Wasser in die Höhe spritzen.

Geister kamen aus ihrer Deckung gelaufen, um Gaunt aus dem Becken zu ziehen. Hustend starrte Gaunt auf das brodelnde Wasser, wo sich der ergrimmte Karess aufzurichten versuchte.

»Brostin! Lubba!«, befahl Gaunt hustend. »Kocht das Schwein!«

Fünf tanithische Flammer rannten zum Beckenrand und spien flüssiges Feuer ins Wasser. In der engen Steinkammer war die Hitze immens. Dampf stieg auf. Sie machten weiter … Brostin, Lubba, Dremmond, Lyse, Neskon … und verwandelten das Wasser in einen siedenden Schaum.

Karess’ gepanzerter Rumpf war gegen praktisch alles gefeit, aber Gaunts Schwert hatte ein Loch hineingeschnitten. Siedendes Wasser drang ein und kochte den lebendigen Rest im Innern. Karess versank im Wasser, seine Rumpflichter wurden matter und erloschen schließlich.

Brostin und seine Kollegen stellten das Feuer ein und hoben ihre Schläuche. Die Luft war glühend heiß und stickig von Dampf und Rauch. Praktisch das gesamte Bad war mit einem blutigen Film überzogen.

Für einen fürchterlichen Preis war der letzte der neun ausgeschaltet worden.

 

Viel weiter oben in der Altmakropole verspürte Agun Soric in seiner Zelle einen jähen Anfall von Erleichterung. Er legte sich mit klopfendem Herzen wieder auf die Pritsche. Dann spürte er, wie etwas in seiner Jackentasche zuckte.

 

»Es gab Zeiten«, sagte Sabbat ruhig, »in denen ich nicht gedacht hätte, dass wir so weit kommen würden.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie redete, als gebe es immer noch eine Aussicht auf den Sieg. »Lugo hat ein Schiff«, sagte er. »Ich bezweifle sehr, dass es einen Fluchtversuch überleben würde, aber er will Sie an Bord haben.«

»Und Sie?«

Gaunt schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es gibt kaum eine Aussicht, dass Sie den Krieg überleben können, meine Heilige, und Lugos Schiff bietet ganz sicher keine. Mkoll hat eine Flucht zu Fuß durch den hinteren Teil des Stadtbeckens in den Südlichen Schutzwall vorgeschlagen. Sie wäre nicht leicht zu bewerkstelligen, aber Sie und eine kleine Streitmacht könnten sich da draußen verstecken und am Leben bleiben.«

»Während Sie Innokenti hier mit Ihrem letzten Gefecht beschäftigen?«

»Niemand anders ist dazu in der Lage. Biagi ist tot, Kaldenbach so gut wie. Lugo ist zu verängstigt.«

Gaunt und die Beati saßen allein in einem Debattierraum des Herodorischen Offiziats in der neunten Ebene der Altmakropole. Trotz der monolithischen Bauweise des Bauwerks spürten sie, wie sich die Vibrationen des Krieges in den tiefsten Ebenen ausbreiteten.

»Ibram?« Sie lächelte. »Haben Sie angenommen, meine Anwesenheit hier diente keinem Zweck?«

»Wenn sie einen Zweck hat, Sabbat, ist er zu hoch für mich. Ich habe nie begriffen, warum Sie hierher nach Herodor gekommen sind. Sie sind zu wertvoll – für uns und für den Erzfeind. Sie hätten unsere Truppen auf Morlond zum Sieg führen können. Hier haben Sie sich für nichts und wieder nichts selbst in die Falle begeben. Mit Ihrer Anwesenheit hier haben Sie nur den Truppen des Chaos einen Dienst erwiesen. Ihr Tod wird ihrer Moral viele Jahre Auftrieb geben.«

»Sie kennen sich doch mit Risiken aus, Ibram. Sagen Sie, ist es besser, ein wenig für einen kleinen Sieg zu riskieren oder alles für einen großen?«

Gaunt lachte traurig. »Ich sehe keine Paral…«

»Wenn ich nach Morlond gegangen wäre, Ibram, wäre uns dort in der Tat ein schneller Sieg sicher gewesen. Aber es wäre auch der Tod des Kreuzzugs gewesen. Macaroth hat eine zu lange Front. Innokentis Flankenangriff schneidet tief in die Khan-Gruppe. Der Kriegsmeister und ich hätten einen Sieg auf Morlond errungen, aber die Truppen hinter uns wären im Zuge des Gegenangriffs vernichtet worden. Wir wären abgeschnitten und ausgelöscht worden.«

»Also gehen Sie stattdessen in die Khan-Gruppe? Ohne zählbare Truppen?«

»Wie wichtig ist Herodor, Ibram?«

»Verglichen mit den bedeutenden Welten der Khan-Gruppe und den Hauptbevölkerungszentren? Völlig unwichtig.«

»Warum gibt sich dann aber der Magister persönlich … und so ein großer Teil seines Heers … damit ab?«

Gaunt zuckte die Achseln. »Weil Sie hier sind.«

Sie nickte. »Innokenti hätte den Krieg mit einem gnadenlosen Vorstoß durch die Khan-Flanke sofort zugunsten des Chaos entscheiden können. Wir hatten nicht die Truppen, um ihn daran zu hindern. Aber mir kam der Gedanke, wir könnten ihn vielleicht ablenken und dazu bringen, wichtige Zeit mit der sinnlosen Invasion einer wertlosen Welt zu vergeuden.«

»Sie … sie haben sich als Köder hergegeben?«

»Sie haben selbst gesagt, dass ich zu wertvoll bin. Für uns und den Erzfeind. Innokenti konnte mich nicht übergehen.« Sie griff in eine Tasche und holte eine Datentafel heraus. »Das hier haben die Astropathen ein paar Minuten vor der Schließung der Tore empfangen. Ich hatte die Absicht, es anlässlich der Zeremonie im Balnearium zu verkünden, aber wir wurden unterbrochen.«

Gaunt nahm die Tafel und las sie. Der Text hatte einen extrem hohen Verschlüsselungsgrad gehabt. In einem letzten blutigen Vorstoß hatten Macaroths Truppen Morlond eingenommen. Urlock Gaur hatte die Flucht ergriffen. Es würde seine Zeit dauern, aber jetzt konnten imperiale Truppen abgezweigt werden, um die Verteidigung der Khan-Gruppe im Angesicht von Innokentis Angriff zu stärken.

Eines Angriffs, der auf Herodor ins Stocken geraten war, obwohl der Feind alle Vorteile hatte.

»Beim Goldenen Thron …!«, seufzte Gaunt erstaunt.

»Vielleicht sterben wir hier, Ibram. Aber wenn, dann im Namen des Siegs.«

»Dem Imperator sei Dank«, sagte er.

Sie erhob sich. »Und sollte ich hier sterben, würde ich mich gerne so teuer wie möglich verkaufen. Milo?«

Milo hatte im Vorzimmer der Kammer gewartet. Er kam herein und verbeugte sich vor ihr, bevor er vor Gaunt salutierte.

»Die Zeit ist gekommen«, sagte sie. »Meine Botschaft?«

»Ich habe sie zur Taktisch-Logistischen Zentrale gebracht. Dort hat man sie ins öffentliche Nachrichtensystem der Civitas eingespeist und wartet auf das Signal.«

»Jetzt, Milo.«

Er schaltete das Helmkom ein und sendete einen kurzen Befehl.

 

Die Bild-Botschaft war kurz. Sie hatte direkt und mit klarer, deutlicher Stimme in die Kamera gesprochen. Alle noch funktionierenden Nachrichtenschirme, Kom-Monitore und Bild-/Ton-Tafeln in der Civitas sendeten sie, und der akustische Teil dröhnte aus allen Lautsprechern, die noch an die Systeme der Stadt angeschlossen waren. Sie dauerte ungefähr fünfzig Sekunden und konnte in der gesamten Civitas Beati von Freund und Feind gleichermaßen gesehen und gehört werden.

Die Botschaft verbreitete die Nachricht vom großen Sieg auf Morlond. Sie verkündete, dass Innokentis mörderisches Wagnis gescheitert war. Sie forderte ihn zur Flucht auf, bevor der Zorn des Gott-Imperators für die auf Herodor von ihm verübten Gräueltaten über ihn kommen konnte. Die letzten Worte lauteten wie folgt:

»Alle lebenden Menschen, die es noch in dieser Stadt gibt, alle noch lebenden Seelen in der Civitas, ich sage Euch: Mit überwältigenden Truppen hat das Ungeheuer Innokenti uns körperlich zermalmt, aber unseren Kampfgeist kann er nicht zermalmen. Unser Opfer hat einen großen Sieg ermöglicht. Sterbt nicht in Furcht im Verborgenen. Verkauft Euer Leben so teuer wie möglich. Der Imperator der Menschheit hat Platz für alle in der Armee seines Imperiums.«

Zuerst kamen sie aus den Agroponischen Kuppeln. Der Angriff des Erzfeindes hatte die Agrar-Sektoren im Westen in seinem Bemühen ignoriert, sich auf die Makropoltürme zu konzentrieren. Feldbeobachter des Blutpakts an der Westflanke der Invasion sahen plötzlich Gestalten zu Tausenden aus den Kuppeln stürmen.

Kinder der Beati. Die Pilgermassen.

Trotz der Verluste, die sie in dem kurzen, aber grausamen Krieg bisher erlitten hatten, zählten sie immer noch Hunderttausende. Die riesigen Agroponischen Kuppeln hatten ihnen Schutz geboten, als die Stadt gefallen war. Sie waren Männer und Frauen, die nach Herodor gekommen waren, ohne eigentlich zu wissen, warum, nur eben, dass die Beati sie gerufen hatte.

Und nun rief sie sie wieder, ganz direkt, mit der Botschaft.

Manche hatten sich feindlicher Waffen oder solcher der PS bemächtigt, andere hatten sich mit landwirtschaftlichen Werkzeugen, abgebrochenen Rohren und Holzstäben bewaffnet. Viele hatten nur die bloßen Hände.

Tausende von ihnen starben, den Waffen und der Ausrüstung des feindlichen Heers jämmerlich unterlegen. Doch sie zögerten keinen Augenblick.

Eine Stunde, nachdem sie aufgetaucht waren, um ihren heiligen Zorn auf die Legionen des Magisters abzuladen, fluteten ähnliche Massen aus den Makropoltürmen eins und drei und aus den öffentlichen Schutzräumen und Bunkern in Gildenhang und der Unterstadt.

Die Civitas Beati, von Enok Innokenti beinahe zermalmt, wand sich wie ein tödlich verwundetes Tier in der Falle und schnappte nach dem Jäger.

 

Agun Soric hämmerte mit den Fäusten gegen seine Zellentür. Seine Hände waren blutig und geschwollen und hinterließen blutverschmierte Flecken auf dem Stahl.

»Bitte!«, rief er. »Bitte! Sie müssen mich entlassen! Ich muss sie warnen! Ich muss sie warnen!«

Niemand antwortete. Zu dieser späten Stunde und angesichts der Lage gab es tatsächlich niemanden mehr, der noch im Zellenblock Dienst tat und ihn hören konnte.

Er schrie und hämmerte weiter gegen die Tür, während ihm die Tränen über das faltige Gesicht liefen.

Der geöffnete Messingzylinder und ein gefalteter blauer Zettel lagen hinter ihm auf der Pritsche.


VIERZEHN

Sabbatmärtyrer

»Erkennt ihn als das, was er wirklich ist. Ein Mörder.«

– Botschaft, in Sorics Handschrift verfasst

 

In der ersten Stunde des Kampfes hatte Anton Alphant eine von einem Leichnam des Feindes erbeutete Pistole benutzt, aber dann hatten sie einen Truppentransporter der PS gefunden, der herrenlos am Rand einer der zu Makropolturm eins führenden Straßen stand, und daraus hatten sie ein halbes Dutzend Lasergewehre geborgen.

Sie hatten einen Drahtschaft anstelle des gepressten Metalls, das er aus seiner Zeit bei der Garde gewöhnt war, aber abgesehen davon war es schockierend vertraut.

Die Nacht war über die Civitas hereingebrochen. Feuersbrünste wüteten, und alles war in das monumentale Dröhnen des Krieges gehüllt. Alphant fand sich in die blutigsten Kämpfe verwickelt, an denen er – auch als Soldat – je teilgenommen hatte. Er gab sich alle Mühe, aus dem Straßenkampf schlau zu werden und die Pilgertruppen bei sich anzuleiten.

Die Pilgerarmee war nicht strukturiert. Sie war im Wesentlichen ein gigantischer Pöbelhaufen. Aber die Beati war zu ihnen in die Agroponischen Kuppeln gekommen, hatte Männer wie Alphant aus der Menge geholt und den Pilgern aufgetragen, sich von ihnen führen zu lassen. Die meisten taten dies auch. Sabbat hatte unfehlbar all jene mit militärischem Hintergrund und auch diejenigen herausgepickt, die sich bereits zu natürlichen Anführern einzelner Pilgergruppen entwickelt hatten.

Sie hatten eigentlich keinen Plan … nur den, sich auf den Feind zu stürzen. Alphant versuchte seinen Teil der Pilgerflut zur Altmakropole zu lenken, wo angeblich die Beati belagert wurde.

Wichtig war nur ihr Leben.

 

Etrodai hatte ihn noch nie so außer sich vor Zorn erlebt. Die Wut des Magisters war so groß, dass Etrodai sogar um sein eigenes Leben fürchtete. Heulend, mit einer blendenden Kugel aus Elmsfeuer um sich, trieb Enok Innokenti das Gefolge und drei erfahrene Todesbrigaden des Blutpakts durch die Eingeweide der Altmakropole, durch Gänge und Flure, die von den Kämpfen in Schutt und Asche gelegt worden und mit den Leichen der Gefallenen übersät waren.

Schleuse für Schleuse, Halle für Halle bohrten sie sich in die schwächer werdende Verteidigung der Turmstadt. In vorderster Front stach Etrodai die Knochenklinge durch PS-Soldaten, Männer der Imperialen Garde und fanatische zivile Kämpfer.

Über hunderttausend Blutpakt-Soldaten mit ihren Panzerfahrzeugen waren jetzt in der Altmakropole und breiteten sich wie ein Lauffeuer in den unteren Ebenen aus. Weitere Hunderttausende waren draußen in den Ruinen der Oberstadt massiert, da die Unterstadt hinter ihnen brannte.

Es gab Berichte über Gegenangriffe auf die Flanke, aber Etrodai war sicher, dass sie nicht stimmen konnten. Es gab hier auf Herodor keine anderen imperialen Truppen mehr, die solche Angriffe hätten inszenieren können.

Die trotzige Botschaft der Heiligen hatte diesen Grad der Wut im Magister geweckt. Er wollte sie haben. Er würde sie persönlich töten.

Wichtig war nur ihr Leben.

Kurz vor Mitternacht gelang es einer Todesbrigade, zwei zentrale Stromgeneratoren in den Kellerebenen der Altmakropole zu verminen, in erster Linie in dem Versuch, die beständigen Wiederholungen der Botschaft der Heiligen verstummen zu lassen, die ihren Herrn und Meister so zornig gemacht hatte. Die Explosion verwüstete zwei Ebenen und verursachte einen gewaltigen Einsturz, bei dem Tausende ums Leben kamen. In den achtzehn Ebenen darüber fiel der Strom aus. Wo dort noch das Gemetzel tobte, wurden die Hallen und Straßen der Makropole zu infernalischen Höhlen, die nur noch von Flammen und Mündungsblitzen erleuchtet wurden. Feuer gerieten außer Kontrolle, nachdem das Löschsystem nicht mehr funktionierte, und in der nicht mehr zirkulierenden Luft sammelte sich Rauch.

Innokenti und seine Speerspitze fegten förmlich durch all das, umgeben vom Leuchten seiner psionischen Fähigkeiten und tödlichen Energiefasern, die ein Manifest seiner ungeheuren Wut waren. Die Eindringlinge folgten ihnen.

 

Im Zellenblock weiter oben wurde es dunkel. Soric, mittlerweile heiser und erschöpft, wartete auf das Anspringen der Notaggregate, doch nichts dergleichen geschah.

Er stemmte die Hände gegen die Zellentür und versuchte sie aufzuschieben. Wenn der Strom vollständig ausgefallen war, würden die Magschlösser auch nicht mehr funktionieren.

Die Tür rührte sich keinen Millimeter. Er versuchte es noch einmal, bis er vor Anstrengung schnaufte, und diesmal konnte er die Stahltür ein kleines Stück in ihrer Führung bewegen. Soric mühte sich, bis er die blutigen Finger in den entstandenen Spalt schieben konnte und einen besseren Halt hatte.

Er schob die Zellentür auf und ging schwankend nach draußen. Im Zellenblock war es dunkel. Stolpernd und tastend suchte er sich den Weg nach draußen zum Versammlungsplatz. Das Haupttor des Militärgefängnisses war offen. Die Makropolstraße draußen war finster und vollkommen verlassen. Er spürte ein Grollen von unten, entfernt. Die Luft war abgestanden und stank nach Rauch. Durch die großen Belüftungsschächte hörte er Geräusche durch die gigantische Struktur des Makropolturms hallen.

Geräusche des Gemetzels und der Zerstörung, Geräusche des Todes.

Auf der Suche nach einem Treppenhaus hinkte Soric die leere Straße entlang.

 

Die bevorstehende Ankunft des Magisters auf dem Großen Platz, einem ausgedehnten öffentlichen Raum in der neunten Ebene der Altmakropole, wurde durch Schleichpanzer angekündigt, die schießend aus den drei großen Treppenhäusern hervorbrachen, die von den Transitbahnhöfen und Ziergärten weiter unten heraufführten. Die Treppen waren so groß, dass fünf oder sechs der Kriegsmaschinen sie nebeneinander erklimmen konnten. Das Gefolge und die Todesbrigaden des Blutpakts folgten ihnen auf dem Fuß und schossen auf die Imperialen, die sich rings um den Platz hinter den Geländern aus Schmuckbasalt verschanzt hatten. Der riesige Platz war drei Makropolebenen hoch, und die massiven gläsernen Kronleuchter an der Decke waren seit dem Stromausfall erloschen. Dreißig Meter hohe Fenster erleuchteten den Platz mit dem Schein der brennenden Stadt draußen.

Major Udol, mittlerweile ranghöchster Kommandeur der planetaren Streitkräfte, hatte seine letzten Panzer auf dem Platz versammelt, und ihre Geschütze nahmen die Schleichpanzer aufs Korn, als diese aus den Treppenhäusern stürmten. Granatexplosionen rissen den Straßenbelag auf und schleuderten Steinplatten und Menschen durch die Luft. Pulslaser pumpten ihre Strahlen durch die höllische Düsternis, rissen die Fassaden der Gebäude rings um den Platz ein und zerschmetterten die großen Obsidianskulpturen, die unter dem Dach hingen. Glasbildnisse des Adlers und anderer imperialer Symbole krachten in einer Lawine aus Glasscherben zu Boden und explodierten beim Aufprall wie fallende Eisbrocken.

Die Truppen des Magisters stürmten auf den Platz.

Gaunt hatte die Hälfte des tanithischen Regiments und den Rest der Leibkompanie für dieses Gefecht hinter den Panzern versammelt. Die restlichen Truppen waren auf anderen Ebenen mit der Abwehr anderer Angriffe beschäftigt, aber dieser hier war der Schlüssel, das wusste Gaunt.

Sie hatte es ihm gesagt. Sie hatte gespürt, wie sich ihnen Innokentis Zorn näherte.

Udols Panzer rollten langsam über das Pflaster und die riesigen Haufen zersplitterten Glases zurück und schossen dabei aus allen Rohren. Sie erlitten schwere Verluste, aber kein einziger Schleichpanzer drang vom Treppenhaus weiter als zwanzig Meter auf den Platz vor. Udols langsamer Rückzug sollte einen Großteil der feindlichen Infanterie mitten auf den Platz locken, wo es keine Deckung gab.

»Im Namen des Imperators … jetzt!«, sendete Gaunt über Kom, und seine Infanterie tauchte an den Seiten des Platzes auf und eröffnete das Feuer. Die ersten fünfzig Sekunden waren ein flammendes Massaker. Das Gewitter der Laserstrahlen erleuchtete den Platz taghell. Hunderte Blutpakt-Soldaten und Angehörige des Gefolges wurden niedergemäht oder in Stücke gesprengt. Dann organisierte sich der Erzfeind, und das eigentliche Feuergefecht begann. Trotzdem setzten ihnen die Imperialen schwer zu.

»Die Linien halten und in Deckung bleiben!«, befahl Gaunt. Seine Männer genossen den Vorteil der Deckung der Gebäude auf beiden Seiten des Platzes, während der immer noch vorstürmende Feind nichts anderes als offenes Gelände hatte.

Gaunt sah Licht im Eingang des Treppenhauses. Unirdisches, böswilliges Licht, das wie Blitze eines Gewitters knisterte. Mit Entsetzen sah er, dass die Beati und die Leibkompanie ihre Deckung verlassen hatten und auf den Platz stürmten, dem Licht entgegen. Die Beati selbst war in grünes Feuer gehüllt.

Allein würde sie trotz der ihr innewohnenden Macht sterben.

»Geister von Tanith!«, brüllte er, indem er sein Schwert hob. »Zum Angriff!«

Nur auf Balhaut, in jener Kriegshölle, hatte Gaunt Nahkampf dieser Größenordnung erlebt. Wie zusammenprallende Meere gingen die Wellen der Soldaten mit Bajonetten und Gewehren aufeinander los. Flammenwerfer tosten. Die Wucht des Zusammenstoßes ließ den uralten Platz erbeben. Gaunt lief mit seinen Männern, die feuernde Laserpistole in der linken und das mähende Energieschwert in der rechten Hand. Binnen Sekunden wurde er von zwei Streifschüssen getroffen, und seine Kleidung wies ein halbes Dutzend Risse auf. Das Schwert Heironymo Sondars tötete Blutpakt-Veteranen, die ihn mit aufgepflanzten Bajonetten ansprangen, und zerhackte die dunkelblauen Rüstungen der Elitetruppen des Magisters, brutale Bestien mit Schutzbrillen, die wie insektenhafte Knollenaugen aussahen.

Er versuchte die Heilige zu finden. Sein Gesicht war nass von Blut, und sein Atem hinterließ einen schlechten Geschmack im Hals. Der Lärm ringsumher war so gewaltig, dass er ihn taub machte. Jede Sekunde, jeden Sekundenbruchteil schlug er zu, wich aus, bewegte sich und schoss mitten im dicksten Getümmel eines so wilden Nahkampfs, dass er ein Echo der barbarischen Kriege der Vergangenheit zu sein schien.

Er sah Rawne und Caffran einen Moment, die auf den Feind schossen, während sie vorstürmten. Feygor, der über einem gefallenen Geist kniete und auf Dauerfeuer geschaltet hatte. Varl, Criid, Obel, Domor, Meryn mit ihren Männern um sich, wie sie auf die Masse des Feindes losgingen. Er sah, wie Daur einem Blutpakt-Offizier durch den Kopf schoss. Er sah, wie Brostin eine Gruppe Soldaten aus dem Gefolge in die Flammen seines Werfers hüllte, bis sie zusammenbrachen. Er sah ehrliches Silber und viel Blut und Courage.

Er sah Männer, die er nun seit fast sieben Jahren kannte, kämpfen und sterben.

Die Männer und Frauen von Verghast, allesamt wahre Geister, beherzt und tapfer.

Die Männer von Tanith, die standhaftesten Krieger, die er kannte und die es so verdient hatten, ewig zu leben.

Gaunt wusste, dass der Krieg unbeständig war und einem Krieger nur selten gestattete, sich den Ort seines Todes auszusuchen. Aber der hier, der reichte. So gut, so ehrenhaft und so würdig, wie man sich nur wünschen konnte.

Der Schein des unheiligen Lichts war ihm nah, und er hackte sich durch dichter werdende Reihen von Gefolge-Soldaten, um es zu erreichen. Seine Pistole war verschwunden. Nur die aufgeladene Klinge seines Schwerts blieb ihm noch. Ein Laserstrahl streifte seine Wange, doch er ignorierte die brennenden Schmerzen, sprang vor und schlug einem Mitglied des Gefolges den Kopf ab.

Von sich häufenden Toten umgeben, stand Innokenti vor ihm. Der Magister, widerlicher und schlimmer als alles, was Gaunt sich hätte vorstellen können, kämpfte Schwert gegen Schwert mit der Beati.

Jeder Hieb, den sie wechselten, jeder Schlag hallte wie Donner. Funken stoben. Die Druckwellen der aufeinander prallenden Klingen holten die Männer ringsumher – Freund und Feind gleichermaßen – von den Beinen. Der Magister war in grässliches, sich windendes Elmsfeuer gehüllt, während die Heilige in einem kalten grünen Feuer in Gestalt eines großen Adlers mit entfalteten Flügeln erstrahlte.

Gaunt stürmte vorwärts, und seine Stiefel glitten auf dem blutnassen Steinboden aus.

Ein Dämon sprang ihn an und versperrte ihm den Weg. Die Bestie war gewaltig. Sie trug die blauschwarze Rüstung des Gefolges, aber der Kopf war nackt, die rosa Haut schauderhaft von Ritualnarben entstellt. Mund und Nase waren hinter einem augmetischen Gitter verborgen, und die Augen waren leuchtende gelbe Schlitze. Der Dämon schwang ein grässliches Schwert aus gezähntem Knochen, das aus seiner rechten Faust wuchs. Das Fleisch dieser Finger hatte sich zurückgekräuselt, sodass graue Fingerknochen bloß lagen, die nahtlos in die lange Klinge übergingen. Der Dämon schlug nach Gaunt.

Das Blut rettete ihn. Er glitt aus und fiel. Die Knochenklinge zischte über seinen Kopf hinweg, und Gaunt wälzte sich zur Seite, bevor der Rückschwung ihn treffen konnte. Er sprang auf und parierte das Dämonenschwert, als es auf ihn zusauste, um mit einem Gegenstoß zu kontern, den der Dämon ablenkte.

Sie umkreisten sich inmitten des wüsten Gemetzels und wechselten dabei mit aller Kraft geführte Hiebe. Gaunt konnte die Beati nicht mehr sehen. Nur ein grünlicher Schein in der Luft ließ vermuten, dass sie noch lebte. Verzweifelt sprang Gaunt vor, doch der Dämon hakte seine Klinge in seine und konterte mit einem Stoß, der Gaunts Energieschwert nach unten drückte.

Er war ungeschützt und hatte sich eine riesige Blöße gegeben. Die Knochenklinge war unterwegs zu seinem Hals.

Ein Laserstrahl traf den Dämon seitlich in den Hals, und ein zweiter riss seine Schulterschützer auf. Der Dämon drehte sich taumelnd von Gaunt weg.

Brin Milo stürmte vor, da sein Magazin leer war, und rammte dem Dämon sein ehrliches Silber bis ans Heft in die Brust.

Vom ätzenden Blut der Bestie zerfressen, brach die Klinge ab. Milo taumelte zurück. Mit einem wortlosen Aufschrei wirbelte Gaunt herum und fegte sein Energieschwert sauber durch den Hals der Bestie.

Etrodai, der Lebenswart des Magisters, fiel tot zu Boden, und seine Knochenklinge zerfiel zu Staub.

Gaunt und Milo fuhren herum und liefen zur Beati. Lebendiges Feuer umknisterte sie und ergoss sich wie brennendes Öl über den Platz.

Das Feuer rann aus dem aufgeschlitzten Bauch des Leichnams von Enok Innokenti.

»Heiliges Terra …«, stammelte Gaunt.

Sabbat erhob sich, und in ihrer hochgereckten Faust baumelte der blicklose Schädel des Magisters.

»Im Namen des Imperators!«, brüllte sie. Der leuchtende Adler, in den sie gehüllt war, dehnte sich zu dreifacher Größe aus und schnappte nach dem hohen Dach.

Ihre Stimme war so klar und laut, dass die großen Fenster des Platzes in einem Gewitter aus Glas zersprangen.

Wie ein Mann ließen alle Krieger des Erzfeindes auf Herodor ein gellendes Kreischen hören.

 

Wo der Erzfeind ihm noch vor einer Minute heftigst zugesetzt hatte, sah sich Corbec nun mit gähnender Leere konfrontiert. Müde und nervös schickte er seine Männer vorsichtig vorwärts, bis sie das Westtor der Makropole erreichten.

Irgendetwas war ganz eindeutig passiert. Die feindlichen Truppen hatten sie von allen Seiten bedrängt, und jetzt waren sie auf der Flucht.

»Rerval? Was läuft hier, Sohn?«

Rerval schüttelte den Kopf. Eine gigantische, verheerende Welle psionischen Hintergrundrauschens hatte soeben alle Kom-Frequenzen unbrauchbar gemacht und alle Kom-Geräte innerhalb der Makropole durchbrennen lassen.

»Das könnte ein Trick sein«, sagte Mkvenner.

Corbec nickte. »Wir machen hier Halt. Diese Wichser geben nicht so leicht auf. Wenigstens haben wir Platz zum Atmen.«

Mkvenner nickte. Er sammelte die Geister und Soldaten der PS in der unmittelbaren Umgebung und ließ sie aus den herumliegenden Trümmern Barrikaden bauen.

Haller kam angelaufen, als die Männer mit der Arbeit begannen.

»Irgendwas geht vor«, sagte er zu Corbec. »Das Kom ist tot, aber gerüchtweise heißt es, dass der Feind sich überall zurückfallen lässt.«

Corbec kratzte sich am Kopf. »Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, was da los ist.«

»Colm?«

Corbec drehte sich um. Mkoll näherte sich ihm. Ein Teil seines Trupps folgte ihm, ramponiert und blutend wie alle anderen. Die Männer eskortierten eine Gestalt.

Es war Soric.

»Er … er will mit Ihnen reden«, sagte Mkoll.

»Agun hat mich in seinem ganzen Leben noch nie groß um Gehör bitten müssen, Mkoll. Damit braucht er jetzt auch nicht mehr anzufangen.«

Corbec ging zu Soric. Der alte Verghastit zitterte und war vollkommen erschöpft.

»Sie müssen Gaunt warnen.«

»Ihn warnen?«

»Es ist noch nicht vorbei.«

»Ich will nicht mit Ihnen streiten, Agun. Irgendwas ist hier faul, aber ich …«

»Nein, Colm!« Soric zog einen Nachrichtenzylinder aus Messing aus der Hosentasche und öffnete ihn. »Die Neun. Die Neun sind noch nicht erledigt. Die Psioniker …«

Corbec grinste. »Die Psioniker habe ich getötet, Agun. Pater Sünde und seine zwei Missgeburten. Ich habe sie in die Hölle geschickt.«

Soric schluckte. »Ich weiß. Er hat es mir gesagt.«

»Wer?«

»Das spielt keine Rolle. Colin, sie hatten bereits jemandem die Aufgabe in das Bewusstsein gebrannt. Deswegen waren sie hier. Nicht, um die Beati zu töten wie die anderen, sondern um einen Mörder auszuwählen und zu prägen, der es für sie tut. Jemanden, der nah bei ihr ist. Und der läuft immer noch frei herum.«

Corbecs Augen weiteten sich. »Feth … Wer ist es?«

»Er hat mir alles gezeigt, Colm. Er hat mir gezeigt, was er ist«, sagte er, indem er Corbec den zerknitterten blauen Zettel zum Lesen hinhielt.

 

Milo legte der Beati einen Arm um die Schulter und führte sie über den Platz. Sie zitterte vor Erschöpfung, und mehrere tiefe Schnitte, die Innokenti ihr zugefügt hatte, bluteten stark.

»Sanitäter! Sanitäter, hierher!«, rief er.

Der Feind war verschwunden, in schneller Flucht. Seine Moral war gebrochen, ebenso sehr durch den Tod ihres Anführers wie durch den Sieg der Beati. In diesem Augenblick kämpften die fliehenden Feindeinheiten gegen die Pilgerarmee in der Oberstadt, da sie auszubrechen versuchten.

Es war noch nicht vorbei. Tatsächlich war der Krieg auf Herodor noch lange nicht beendet. Aber einstweilen war die drohende Niederlage abgewendet worden.

Der ruinierte Platz, rauchverhangen und voller knisternder Feuer, war mit den Toten beider Seiten übersät. Männer bahnten sich einen Weg durch die Trümmer, während sie nach verwundeten und gefallenen Kameraden suchten. Wo sie auf noch lebende Feinde stießen, ließen sie keine Gnade walten.

Dorden führte einen ganzen Trupp Sanitätsmannschaften auf das Schlachtfeld.

»Hierher!«, rief Milo, und Dorden kam zu ihnen gelaufen.

Gaunt und andere Offiziere standen wachsam in der Nähe, während Dorden die Wunden der Beati behandelte. »Funktioniert das Kom?«, fragte er Beltayn.

»Nein, Herr Oberstabsarzt. Der Todesschrei des feindlichen Anführers hat jeden Schaltkreis durchbrennen lassen.«

Gaunt wandte sich an die Männer ringsumher. »Wir haben heute etwas ganz Großes vollbracht. Wir sind vom Rande eines Abgrunds zurückgekehrt, von dem ich sicher war, dass wir hineinstürzen würden. Wir haben dem Erzfeind der Menschheit einen gewaltigen Schlag versetzt. Sammeln Sie Ihre Einheiten, kümmern Sie sich um die Verwundeten und sorgen Sie dafür, dass sich die Nachricht verbreitet. Die Beati hat gesiegt. Innokenti ist tot. Alle sollen es erfahren. Jeder Bewohner dieser Stadt soll es erfahren.«

Die Offiziere nickten und machten sich an die Arbeit.

»Ich muss sie in ein Krankenhaus schaffen, in dem es Strom gibt«, sagte Dorden. »Und ich brauche eine Trage …«

»Ich kann laufen«, sagte Sabbat, während sie sich erhob.

»Dann begleiten wir Sie«, sagte Gaunt. »Ehrengarde, antreten!«

Milo trat ebenso vor wie Daur und Derin. Nessa folgte ihrem Beispiel. Gaunt nickte.

Larkin, der müde an eine Hauswand gelehnt dasaß, rappelte sich auf.

»Ich auch, Herr Kommissar«, sagte er.

Gaunt sah ihn an. »Aus irgendeinem besonderen Grund, Larks?«

Larkin zeigte auf die Geister, die die Beati umringten.

»Die waren schon einmal Ehrengarde. Auf Hagia. Die Berufenen.«

Gaunt stutzte und erkannte, dass der Scharfschütze recht hatte. Dorden, Daur, Nessa, Milo und Derin hatten alle an Corbecs inspirierter Mission auf der Schreinwelt teilgenommen. Abgesehen von Corbec selbst fehlten nur die mittlerweile gefallenen Greer, Vamberfeld und Bragg.

»Gleich Nochmal hätte gewollt, dass ich für ihn einspringe«, sagte Larkin. »Es war ihm wichtig. Sie war ihm wichtig. Ich … ich weiß jetzt, warum.«

»Weitermachen«, sagte Gaunt.

 

Unter Benutzung von Taschenlampen verließ die Eskorte langsam den Großen Platz und ging durch den Verbindungsgang zur Haupttreppe. Sie marschierten durch verlassene Makropolstraßen, die Krieg und Plünderungen in Trümmerfelder verwandelt hatten. Verängstigte und benommene Zivilisten kauerten in den Ruinen, beobachteten ihren Vorbeimarsch und verbeugten sich beim Anblick der Heiligen.

Gaunt war nervös und wünschte sich, das Kom möge wieder funktionieren, um sich ein Bild von der Situation machen zu können. Er würde es Rawne und Udol überlassen müssen, die Lage ohne ihn zu konsolidieren.

Sie durchquerten gerade einen weiteren Verbindungsgang in der Nähe der Zugangsschächte, als Gaunt eine Taschenlampe blinken sah, während jemand seinen Namen rief.

Corbec kam angerannt, schwer atmend und mit Soric im Schlepptau.

»Was tut er hier?«, fragte Gaunt.

»Seine Pflicht«, sagte Corbec. »Hier läuft immer noch ein Mörder frei herum. Einer der Neun.«

»Was?«

»Die Psioniker haben jemanden präpariert«, sagte Corbec. »Jemanden Geeignetes.« Er hielt Gaunt den blauen Zettel hin.

»Schafft sie in Deckung!«, rief Gaunt und hob seine Lampe, um den Zettel zu lesen, während Dorden und die Ehrengarde mit der Beati zu einer Deckung eilten. Nessa und Larkin hoben sofort ihr Präzisionsgewehr und hielten durch das Zielfernrohr nach Ärger Ausschau.

»Nein …«, sagte Gaunt, als er den Namen auf dem Papier las. Er fuhr herum. »Milo! Bringt sie …«

Ein Laserstrahl zuckte aus der Dunkelheit ringsumher und traf eine Mauer Zentimeter neben dem Kopf der Beati.

Alle warfen sich zu Boden. Zwei weitere Schüsse wurden abgegeben. Einer traf Derin in der Schulter und holte ihn von den Beinen.

»Ich kann ihn nicht sehen!«, ächzte Larkin mit der Waffe im Anschlag.

Noch zwei Schüsse fielen. Nessa versuchte es mit einer Erwiderung und jagte einen Hochenergiestrahl in die Dunkelheit. Die Antwort des Mörders, ein halb automatischer Feuerstoß, traf Daur in die Hüfte und schleuderte Dorden vor die Wand.

»Er hat uns im Visier!«, rief Corbec, der neben Gaunt in Deckung lag. »Haben Sie Sorics Botschaft gelesen? Haben Sie gelesen, was er getan hat?«

Wut brodelte in Ibram Gaunt. Sorics Talent hatte nicht nur den Mörder identifiziert, der von Sündes Psionikern präpariert worden war, es hatte ihn auch als das entlarvt, was er war. Soric hatte in das hassende Bewusstsein eines eiskalten Mörders geschaut und alle seine Verbrechen enthüllt.

Lijah Cuu. Mörder. Vergewaltiger. Der Mörder Braggs. Der Mörder Sehra Murils.

Corbec hielt Gaunt seine Laserpistole hin.

»Bei drei?«, schlug er vor.

Gaunt warf einen Blick zurück auf die belagerte Eskorte. Daur und Derin wanden sich vor Schmerzen. Dorden lag auf dem Boden und sah aus, als sei er tot. Nessa bearbeitete hektisch seine Brust wie bei einem Ertrunkenen. Milo und Larkin hatten die Waffen erhoben und schirmten die Beati mit ihrem Körper ab.

»Macht euch bereit, sie wegzubringen!«, rief Gaunt.

Er und Corbec sprangen auf, rannten los und schossen dabei in die Dunkelheit. Die Laserpistole knisterte in Gaunts Hand und spie Laserstrahlen in die Dunkelheit. Corbec war neben ihm. Er hatte sein Gewehr auf Dauerfeuer gestellt und beharkte damit die Schatten voraus.

Ein Schusshagel flog ihnen entgegen.

Gaunt setzte über eine eingestürzte Mauer hinweg und rannte an einer Häuserwand entlang. Er schoss in die Düsternis. »Cuu! Cuu, du Schwein! Ich kriege dich!«

Ein Laserstrahl traf Gaunt in den Rücken und warf ihn brutal aufs Gesicht. Er spürte die heiße Woge fließenden Blutes. Er versuchte sich umzudrehen.

»Du zuerst, so sicher wie sicher, und dann die Schlampe«, sagte Cuu, der sich auf Gaunts Rücken kniete und ihm damit einen schmerzgepeinigten Aufschrei entlockte. »Ich leg euch alle um.«

Das ehrliche Silber legte sich an Gaunts Kehle.

Der Hochenergieschuss knisterte so laut, dass er ein mehrfaches Echo auf der Straße erzeugte. Gaunt spürte, wie Cuus totes Gewicht auf ihn fiel. Er kroch unter Cuus Leichnam hervor. Larkin bückte sich und zog ihn hoch.

Gaunt schwankte. Die Wunde in seinem Rücken schmerzte unerträglich. Er starrte auf Cuus Leichnam.

»Ich habe ihn nie gemocht«, sagte Larkin.

»Er hat Bragg getötet.«

»Ich weiß, Herr Kommissar«, sagte Larkin.

»Guter Schuss. In dieser Dunkelheit.«

»Ich wünschte nur, ich hätte ihn eher im Fadenkreuz gehabt«, sagte Larkin. Er redete leise, als habe er mit starken Gefühlen zu ringen.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Gaunt. Er drehte sich um und schaute zurück. Die Schmerzen in seinem Rücken waren höllisch, aber was er sah, schmerzte ihn noch viel mehr.

Zwanzig Meter weiter lag Colm Corbec mit dem Gesicht nach unten tot in einer Blutlache.


EPILOG

Die Schlacht um Herodor dauerte noch weitere sechs Wochen. Das riesige Invasionsheer ließ sich nach Innokentis Tod zurückfallen und wurde dabei von der militanten Pilgerarmee bedrängt. Zwei Tage später, neu geordnet und unter voller Ausnutzung seiner Stärke, griff es die Civitas erneut an. Viele Tausend Pilger starben im Widerstand. Die wegen ihrer Wunden hinkende Beati führte den Gegenstoß der verbliebenen Imperialen – Geister, Regiment Civitas, PS und Pilger – und hielt die gewaltige Invasionsstreitmacht eine Woche in Schach.

Dann traf die vom Kriegsmeister geschickte Verstärkung ein. Die daraus resultierende Raumschlacht erhellte den Nachthimmel. Danach fand ein weit größeres und blutigeres Gefecht statt, als in diesem Bericht beschrieben. Über einen Zeitraum von Wochen wurden die Streitkräfte des Magisters aus der Civitas getrieben und in einer letzten Landschlacht in den Trockenbergen vernichtet.

Die tanithischen Geister hatten daran keinen Anteil.

Und sie spielten auch keine Rolle mehr beim Gesamtsieg. Von ihren Verpflichtungen auf Morlond und an der Front befreit, konnten große Teile der Kreuzzugsstreitmacht zur Khan-Flanke geschickt werden. Die Einzelheiten dieser Auseinandersetzungen sind in anderen Werken festgehalten. Es soll die Feststellung reichen, dass sehr wahrscheinlich die gesamte Khan-Gruppe gefallen und der Kreuzzug insgesamt gescheitert wäre, hätte sich das Heer des Magisters nicht so mit Herodor aufgehalten.

Die Bemühungen der Beati waren entscheidend gewesen. Sie hatte den Flankenangriff zu einer Totgeburt gemacht und außerdem einen von Gaurs höchsten Unterführern getötet. Die Botschaft, die dem Feind damit gesandt wurde, war verheerend. Während sich die Truppen des Archon zu den Randsystemen der Sabbatwelten zurückzogen, bereitete Macaroth bereits die letzte, triumphale Phase des Kreuzzugs vor.

Wie die Geschichte belegt, sollte es nicht leicht für ihn werden. Aber für den Augenblick lag der Vorteil ganz bei ihm.

 

Gaunt wandte das Gesicht ab, als das Landungsboot herunterkam und stechenden Staub aufwirbelte. Es setzte auf dem Dach der Altmakropole auf, und sofort wurden die Schubdüsen heruntergefahren.

Er wandte sich der Beati zu und kniete nieder. Sie zog ihn mit beiden Händen hoch.

»Nicht vor mir«, sagte sie. »Ich müsste vor Ihnen niederknien.«

»Wissen Sie schon, wohin Sie geschickt werden?«, fragte Gaunt.

»An die Front. Nach Carcaradon. Zu Macaroth … wie Lugo immer geraten hat.«

Gaunt lächelte. »Sie wussten es besser.«

»Jetzt hat er recht. Ich werde die Dienste nicht vergessen, die mir die Geister geleistet haben, Ibram.«

»Tun Sie mir nur einen Gefallen und passen Sie auf ihn auf.«

Sie lächelte und nickte. »Seine Bestimmung erwartet uns, Ibram Gaunt. Sie ist größer, als Sie sich vorstellen können.«

Sie küsste Gaunt auf die Stirn und ging zur geöffneten Rampe des Landungsboots. Gaunt sah Milo an. Er wirkte glücklich und verängstigt zugleich. Er lief zu Gaunt, als wolle er ihn umarmen, um dann im letzten Moment abzustoppen und zackig zu salutieren.

Gaunt erwiderte den Salut. Dann zog er sein Kampfmesser und gab es Milo.

»Du hast deins verloren. Nimm dafür meins mit.«

Milo starrte das ehrliche Silber in seinen Händen einen Augenblick an und lief dann zu Sabbat zurück. Die Rampe des Landungsboots schloss sich, dann hob es ab und jagte mit aufbrüllenden Triebwerken in den farblosen Himmel.

»Leb wohl, Brin«, sagte Gaunt, der ganz sicher war, dass er den Jungen nie wiedersehen würde.

 

Die Fähre vom schwarzen Schiff wartete. Ominöse Männer in langen dunklen Gewändern eilten die Plattform entlang. Er konnte den Ozongestank der Schockstäbe riechen. Seine Hände zitterten in den Handschellen.

Eine schwarz gewandete Gestalt schritt die Landerampe herab, starrte auf eine von einem Servitor gereichte Datentafel und ging auf ihn zu.

»Name?«

»Agun S …«

Ein Schockstab brachte ihn zum Schweigen.

»Er heißt Agun Soric«, sagte der Mann, der neben ihm stand.

»Einstufung?«

»Psioniker, Stufe Beta.«

Die schwarz gewandete Gestalt nickte. »Unterschreiben Sie die Überstellung, bitte.«

Viktor Hark nahm die Datentafel mit seinem neu implantierten künstlichen Arm und studierte sie. Mit dem Griffel setzte er seine Unterschrift auf die Tafel und gab sie dem Inquisitor zurück.

»Wohin bringen Sie ihn?«, fragte Hark.

»Dahin, wo er hingehört. Es geht Sie nichts an«, sagte der Inquisitor. »Bringt ihn rauf!«, rief er, und die Wärter trieben den mit Hand- und Fußschellen gefesselten Soric die Rampe empor.

Hark konnte Soric schluchzen hören. Er wandte sich ab und verdrängte es.

Auf dem Bodengitter lag ein Nachrichtenzylinder aus Messing. Hark bückte sich und hob ihn mit der künstlichen Hand auf. Er öffnete ihn und schüttelte den Zettel heraus.

Drei Worte standen auf dem blauen Fetzen.

Helfen Sie mir!

Hark drehte sich wieder um und sah zu, wie die Fähre abhob und sich in den Himmel schwang.

 

Die Säge kreischte. Das liebliche Jaulen von gutem Holz, das geteilt wurde. Die Luft war erfüllt von aromatischem Staub.

Colm Corbec betrat das kleine Holzgeschäft in einer Seitenstraße in Gildenhang und sah eine Weile zu, wie der alte Mann – wie hieß er noch gleich … Wyze? – das Holz bearbeitete. Das Geschäft lief auf Hochtouren. Feth, ja! Särge für die Gefallenen. Gott-Imperator, das konnte man Angebot und Nachfrage nennen!

Corbec trat weiter in die stechende, trockene Luft des Holzgeschäfts und strich mit der Hand über eine Fuhre gereiftes Holz. Kein Nalholz, aber von guter Qualität.

Dieser Wyze. Er war ganz allein, ohne jede Hilfe. Nicht so, wie Corbecs Vater den Laden geführt hätte. Er brauchte einen Helfer.

Corbec krempelte die Ärmel hoch. Er kannte sich mit dieser Arbeit aus. Er liebte sie. Er würde eine Weile bleiben und aushelfen.

»Kein anderes Holz kommt infrage. Verstehen Sie?«

»Ja, Herr Gaunt«, sagte Guffrey Wyze.

»Das heißt Kommissar-Oberst …«, begann Gaunt und schüttelte dann den Kopf. »Nalholz. Und zwar alles.«

»Es ist Ihr Geld, mein Herr. Für einen Freund von Ihnen?«

»Freund, Bruder, Geist«, sagte Gaunt.

Wyze lächelte. »Davon gibt es hier reichlich.«